Sechster Artikel. Die Christen sind gehalten, der zeitlichen Gewalt zu gehorchen.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Zu Matth. 17. (Ergo liberi sunt filii) sagt Augustin (1 Qq. evang c. 22.): „Wenn in jedem Reiche die Kinder des herrschenden Königs frei sind; so sind also die Kinder jenes Königs, dem alle Reiche Unterthan sind in jedem Reiche notwendigerweise frei.“ Die Christen aber sind zu Kinder Gottes erhoben worden, nach Joh. 1.: „Er gab ihnen die Gewalt, Kind Gottes zu werden; denen, die da glauben in seinem Namen.“ Also sind Christen nicht gehalten, der zeitlichen Gewalt zu gehorchen. II. Röm. 7. heißt es: „Tot dem Gesetze seid ihr durch Christi Körper;“ und Paulus spricht da vom Alten Gesetze. Die menschlichen Gesetze wie sie bei den zeitlichen Gewalten gelten, stehen aber niedriger wie das Alte Gesetz. Also sind dieselben noch in weit höherem Grade tot, d h. nicht verpflichtend für die Christen. III. Räubern braucht man nicht zu gehorchen. Nun „sind aber die Königreiche, wird die Gerechtigkeit entfernt, nichts als große Räuberhöhlen,“ sagt Augustin (4. de civ. Dei 4.); und zumeist wird in den weltlichen Staaten die Herrschaft mit Ungerechtigkeit ausgeübt. Also haben die Christen weltlichen Fürsten nicht zu folgen. Auf der anderen Seite ermahnt Paulus (Tit. 3.): „Ermahne sie, den Fürsten und Gewalten Unterthan zu sein;“ 1. Petr. 2. heißt es: „Seid Unterthan jeder menschlichen Kreatur um Gottes willen; sei es dem Könige als dem ersten oder den Vorstehern, die von ihm gesandt sind.“
b) Ich antworte, der Glaube Christi sei das Princip und die Ursache der Gerechtigkeit, nach Röm. 3.: „Die Gerechtigkeit Gottes durch den Glauben Jesu Christi.“ Durch den Glauben Christi also wird die Gerechtigkeit nicht weggenommen, sondern gekräftigt. Diese aber fordert, daß die niedrigeren den höheren gehorchen, denn anders könnte die menschliche Gesellschaft nicht bestehen. Also bildet der christliche Glaube keinen Grund, daß die Christen nicht den zeitlichen Gewalten gehorchten.
c) I. Der Dienst des Menschen dem Menschen gegenüber geht den Leib an, nicht die Seele. Im Zustande der Gnade Christi, wie er jetzt ist, werden wir sonach befreit von den Mängeln der Seele, nicht von denen des Leibes; wie der Apostel selber sagt (Röm. 7.): „Mit dem Geiste diene ich dem Gesetze Gottes, mit dem Fleische dem Gesetze der Sünde.“ Wer also durch die Gnade Christi Kind Gottes wird, der ist frei von der geistigen Knechtschaft, von jener nämlich der Sünde; nicht aber von der körperlichen Knechtschaft, womit er irdischen Herren unterworfen ist; vgl. 1. Tim. 6. II. Das Alte Gesetz war das Bild und die Figur des Neuen Testamentes; also mußte es aufhören, da letzteres kam. Das gilt aber nicht vom menschlichen Gesetze, kraft dessen der eine Mensch dem anderen dient; dazu ist der Mensch auch durch Gottes Willen verpflichtet. III. Nur soweit die Gerechtigkeit es erheischt, darf der Mensch den weltlichen Fürsten gehorchen. Ist das, was sie vorschreiben, etwas offenbar Unerlaubtes oder ist ihre Herrschaft eine angemaßte, so braucht man ihnen nicht zu gehorchen, außer etwa ein Ärgernis zu vermeiden.
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