II.
Und gleichwie die Kinder, wenn sie ein Buch sehen, die Bedeutung der Buchstaben nicht kennen und nicht wissen, was sie sehen; ja gleichwie selbst einem Manne, der des Lesens unkundig ist, Dasselbe begegnet; wie hingegen ein des Lesens Kundiger einen vielbedeutenden Sinn in den Buchstaben findet, z. B. ganze Lebensbeschreibungen, Ge- S. 105 schichten; gleichwie der Unerfahrene, wenn er einen Brief empfängt, nur Papier und Schwärze sieht, der Erfahrene Hingegen die Sprache versteht und sich mit dem abwesenden Schreiber unterhält und ihm hinwieder seinen Willen schriftlich bekannt macht: — so verhält es sich auch mit dem Geheimniß. Die Ungläubigen, wenn sie es auch hören, scheinen es nicht zu hören; die Gläubigen aber, welche durch den Geist belehrt sind, sehen die darin verborgene Kraft. Eben Das zeigt Paulus an, da er sagt, „daß Das, was verkündet wird, jetzt noch verborgen sei; Denjenigen, die da verloren gehen,“ sagt er, „ist es verborgen.“1 Sonst bedeutet das Wort „Geheimniß“ auch das Wunderbare der apostolischen Lehre. Denn so pflegt die Schrift Das zu nennen, was gegen alle Erwartung und gegen alle Begriffe der Menschen geschieht. Daher heißt es anderswo: „Mein Geheimniß für mich und die Meinigen.“2 Und wieder spricht Paulus: „Sehet! ich sage euch ein Geheimniß: wir werden zwar nicht alle entschlafen, aber wir werden alle verwandelt werden.“3 Wenngleich die Lehre allenthalben geprediget wird, so ist sie dennoch geheimnißvoll: und wie uns befohlen ist, von den Dächern berab zu verkünden, was uns in’s Ohr gesagt worden: so haben wir auch den Befehl, das Heilige nicht den Hunden zu geben und die Perlen nicht den Schweinen vorzuwerfen: denn die Einen sind sinnlich und verstehen es nicht; die Andern haben einen Schleier über ihrem Herzen und sehen nicht. Das ist also vorzugsweise ein Geheimniß, was überall verkündet, aber nicht verstanden wird von Denen, die nicht den rechten Sinn haben; es wird aber enthüllt, nicht durch die Weisheit, sondern durch den heiligen Geist, insoweit uns dasselbe zu erfassen gegönnt ist. Daher dürfte man wohl nicht irren, wenn man das Geheimniß etwas Verborgenes nennt; denn auch uns Gläubigen ist nicht alle Einsicht und voll- S. 106 kommene Erkenntniß gegeben. Daher sprach auch Paulus: „Unvollkommen ist unsere Erkenntniß, und unvollkommen unser begeisterter Vortrag.“4 „Denn jetzt sehen wir noch wie durch einen Spiegel, gleichsam räthselhaft: einst aber von Angesicht zu Angesicht.“5 Deßwegen sagt er: „Wir lehren die geheimnißvolle und verhüllte Weisheit, die Gott von Ewigkeit her zu unserer Verherrlichung bestimmt hat.“ „Verhüllt,“ d. h. die Keiner aus den himmlischen Mächten vor uns kannte und Viele auch jetzt noch nicht kennen. „Die Gott zu unserer Verherrlichung bestimmt hat.“ Anderswo heißt es aber: „zu seiner Verherrlichung;“6 denn unser Heil rechnet er sich zur Verherrlichung an, sowie er auch von seinem Reichthum spricht, wiewohl er der Schatz alles Guten ist und, um reich zu sein, keines Menschen bedarf. „Vorherbestimmt“ heißt es, um die Fürsorge Gottes für uns anzuzeigen. Denn wir glauben, daß uns Diejenigen ganz besonders ehren und lieben, die schon lange Zeit vorher Anstalten treffen, uns Gutes zu thun, wie es die Väter mit ihren Kindern machen; denn wenn sie ihnen auch das Vermögen erst später übergeben, so hatten sie doch schon lange vorher und gleich Anfangs Dieses beschlossen. Das sucht nun auch Paulus hier zu zeigen, daß Gott uns immer und von jeher geliebt habe, auch ehe wir noch geboren waren; denn hätte er uns nicht geliebt, so würde er uns diesen Reichthum nicht vorherbestimmt haben. Denke also nicht an die eingetretene Feindschaft; denn die Freundschaft ist älter als diese. „Von Anbeginn der Zeiten her“ heißt so viel als: von Ewigkeit her; denn auch anderswo sagt er: „Der da ist von Anbeginn her.“ So wird man auch finden, daß der Sohn ewig ist; denn auch von ihm heißt es: „durch den er die Welten erschaffen hat,“7 was aber S. 107 ebenso viel bedeutet, als daß er von Ewigkeit gewesen; denn es ist ja offenbar, daß der Erschaffende vor dem Erschaffenen da ist.
8. Keiner von den Fürsten dieser Welt hat sie gekannt; denn hätten sie diese gekannt, so würden sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuziget haben.
Wenn sie ihn aber nicht kannten, wie konnte er denn sagen: „Ihr kennet mich und wisset, woher ich bin?“8 Denn von Pilatus sagt die Schrift, daß er ihn nicht gekannt habe; wahrscheinlich kannte ihn auch Herodes nicht. Diese dürften nun wohl unter den „Fürsten dieser Welt" verstanden werden; man könnte es aber auch, ohne zu irren, auf die Juden und die Priester beziehen; denn auch zu diesen sprach er: „Ihr kennet weder mich noch meinen Vater.“9 Wie konnte er denn aber oben sprechen: „Ihr kennet mich und wisset, woher ich bin“? Was es aber mit dieser und jener Stelle für eine Bewandtniß habe, ist bereits in der Erklärung der Evangelien gesagt worden, und wir verweisen unsere Leser dorthin, um öftere Wiederholungen zu vermeiden.
