VI.
Denn die Ansicht, die wir hierüber haben, haben wir von Christus erlangt, d. h. die Kenntniß, die wir in Glaubenssachen haben, ist eine geistige Kenntniß, so daß wir also mit Uecht von Niemandem beurtheilt werden können, denn unmöglich kann ein sinnlicher (natürlicher) Mensch das Göttliche kennen. Darum sprach auch der Apostel: „Wer kennt den Sinn des Herrn?“ womit er sagt, daß unsere Begriffe bezüglich jener Dinge Christi Sinn erreichen. Auch jenes: „daß er ihn belehren könnte“ setzt er nicht umsonst bei, sondern mit Rücksicht auf das schön Gesagte, nämlich daß Keiner den Geistigen beurtheilen könne; denn wenn schon Niemand den Sinn Gottes wissen kann, um so viel weniger wird Jemand denselben zu belehren und zu lenken vermögen. Das heissen die Worte: „daß er ihn belehren könnte.“
Siehst du, wie er die weltliche Weisheit von allen Seiten zurückweist und zeigt, daß die geistige mehr wisse und erhabener sei? Da nun jene Gründe, nämlich: „daß kein Sterblicher sich rühmen könne; daß Gott die Thoren erwählt habe, um die Weisen zu beschämen; und damit das Kreuz Christi seiner Kraft nicht beraubt werde,“ — den Un- S. 118 gläubigen nicht sehr glaubwürdig und weder anziehend noch nothwendig und nützlich zu sein schienen, so führt er jetzt die allerwichtigste Ursache an, nämlich daß wir auf diese Weise die beste Einsicht gewinnen, indem wir so auch das Erhabene, das Geheimnißvolle, und was über unsere Begriffe geht, zu erreichen vermögen. Denn die Vernunft erschien kraftlos, da wir die Dinge, die unsern Verstand übersteigen, durch die weltliche Weisheit nicht zu erfassen vermochten. Siehst du, daß es ersprießlicher war, von dem Geiste zu lernen? Denn dieser Unterricht ist der leichteste und zugleich klarste: „Wir aber haben Christi Sinn“ d. h. einen geistigen, göttlichen Sinn, der nichts Menschliches an sich trägt. Denn es ist nicht des Platon und des Pythagoras Weisheit, sondern Christus hat das Seinige unserem Verständnisse zugänglich gemacht. Diese Weisheit also, Geliebte, wollen wir in Ehren halten und einen ganz untadeligen Wandel führen; denn er selber macht Dieß zum Zeichen einer großen Liebe, indem er spricht: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte, sondern Freunde; denn ihr seid alle meine Freunde, weil ich Alles, was ich von meinem Vater hörte, euch bekannt gemacht d. h. euch anvertraut habe.“1 Wenn nun schon das bloße Anvertrauen ein Beweis der Freundschaft ist, so bedenke, welch’ eine Liebe Das ist, daß er ihnen die Geheimnisse nicht nur mit Worten anvertraut, sondern uns eben dieselben wirklich geschenkt hat! Diese also laßt uns in Ehren halten! Und wenn wir uns auch vor der Hölle nicht gar so sehr fürchten, so sei uns Dieses fürchterlicher als die Hölle, daß wir gegen einen solchen Freund und Wohlthäter unerkenntlich und undankbar sind: nicht wie Lohnknechte, sondern wie Söhne und Freie laßt uns Alles thun wegen der Freundschaft des Vaters und doch einmal aufhören, uns an das Irdische zu klammern, damit wir auch die Heiden beschämen. Denn eben jetzt, da ich sie wieder bekämpfen will, besorge ich, wir S. 119 möchten uns, ungeachtet wir sie durch Gründe und die Wahrheit der Lehre besiegen, dennoch bei ihnen höchst lächerlich machen, wenn man unsern Wandel mit der Lehre vergleicht, da sie, im Irrthum befangen und ohne diese Überzeugung, an einem vernünftigen Wandel festhalten, wir aber ganz das Gegentheil thun. Jedoch, ich will immerhin sprechen; vielleicht, ja vielleicht werden wir, indem wir sie mit Worten zu bekämpfen suchen, uns bestreben, sie auch in Bezug auf den Lebenswandel zu übertreffen.
Ich habe neulich gesagt, es hätte den Aposteln nie in den Sinn kommen können zu predigen, was sie wirklich geprediget haben, wenn sie sich nicht einer göttlichen Gnade erfreut hätten, ja sie hätten nicht einmal einen solchen Plan fassen, geschweige denn ihn ausführen können. Wohlan denn, wir wollen heute diesen Gegenstand wieder vornehmen und zeigen, daß sie ohne den Beistand Christi Dieses unmöglich denken und beschließen konnten: nicht, weil sie als Schwache gegen Mächtige, als ein kleines Häuflein gegen Viele, als Arme gegen Reiche, als Unwissende gegen Weltweise zu kämpfen hatten, sondern weil die Macht des Vorurtheils groß war. Denn ihr wisset, daß bei den Menschen Nichts so mächtig ist als die Tyrannei alter Gewohnheit. Wenn sie auch nicht bloß zwölf, nicht bloß so unansehnliche Menschen, wie sie es in der That waren, gewesen wären, sondern eine ganz andere Welt vor sich und eine zahlreiche und ihren Gegnern überlegene Partei gehabt hätten, so wäre es dennoch ein schwieriges Unternehmen gewesen. Denn jenen stand das alte Herkommen zur Seite, diesen die Neuheit entgegen: Nichts verwirrt die Seele so sehr, als das Neue und Fremde, selbst wenn es Gutes bezweckt, zumal wenn es die Religion und Gottesverehrung betrifft. Ehe ich euch zeige, wie groß die Macht einer solchen Gewohnheit sei, muß ich noch von einer andern Schwierigkeit reden, die ihnen von Seite der Juden entgegenstand. Bei den Griechen stürzten sie nämlich die Götter und die ganze Götterlehre; bei den Juden aber verfuhren sie nicht so, S. 120 sondern da schafften sie wohl viele Lehren ab, geboten aber den Gott, der das Gesetz gegeben hatte, anzubeten. Und während sie nun lehrten, daß man den Gesetzgeber ehren müsse, fassten sie aber auch: „Du sollst dem Gesetze, das er gegeben, nicht in Allem gehorchen,“ z. B. in Betreff der Sabbatsfeier, der Beschneidung, der Opfer und ähnlicher Gebräuche. Daber standen ihnen nicht nur die Opfer im Wege, sondern auch der Umstand, daß sie Gott anzubeten befahlen, aber viele seiner Gesetze zu übertreten lehrten. Bei den Heiden aber war die Tyrannei der Gewohnheit mächtig.
Joh. 15, 15. ↩
