III.
Wie nun? so frägt man, ist ihnen die Sünde, die sie bei der Kreuzigung begingen, erlassen? Denn er sprach ja: „Verzeihe ihnen!“ Wenn sie sich bekehrten, wurde ihnen vergeben. Denn auch Paulus, der mit tausend Händen den Stephanus gesteinigt und die Kirche verfolgt hatte, wurde ein Vorsteher der Kirche: so wurde auch Jenen verziehen, wenn sie Buße thun wollten, wie denn auch Paulus sagt, indem er ausruft: „Ich frage also: Hatten sie denn so angestoßen, daß sie fielen?“ „Keineswegs.“1 Und wieder: „Hat denn Gott sein Volk, das er vorhergesehen, verworfen?“ „Gewiß nicht!“2 Dann führt er, um zu zeigen, S. 108 daß ihre Buße nicht verworfen worden, seine eigene Bekehrung als Beweis an mit den Worten: „Ich bin ja selbst ein Israelit.“
Jenes: „Wenn sie gekannt hätten“ scheint mir nicht von Christus, sondern vom Erlösungswerke selbst gesagt zu sein; wie wenn er sagte: sie wußten nicht, was der Tod und das Kreuz zu bedeuten hatten. Auch dort sprach ja Christus nicht: Sie kennen mich nicht, sondern: „Sie wissen nicht, was sie thun,“3 d. h. sie kennen die Erlösung, die jetzt vollbracht wird, und dieses Geheimniß nicht. Denn sie wußten nicht, daß das Kreuz einen solchen Glanz erlangen, daß es das Heil der ganzen Welt, die Versöhnung Gottes mit den Menschen sein werde, daß ihre Stadt erobert werden und das äusserste Unglück über sie kommen sollte. — Unter „Weisheit“ versteht er Christum, das Kreuz und das Evangelium. Treffend nennt er ihn auch den „Herrn der Herrlichkeit“; denn da das Kreuz ein Zeichen der Schmach zu sein scheint, so zeigt er, daß es eine große Herrlichkeit ist. Allein es bedurfte einer erhabenen Weisheit, nicht nur um Gott zu erkennen, sondern auch um diese Heilsanstalt Gottes kennen zu lernen; die weltliche Weisheit war ein Hinderniß für das Eine wie für das Andere.
9. Allein, wie geschrieben steht, kein Auge hat es gesehen, kein Ohr gehört und in keines Menschen Herz ist es gekommen, was Gott Denen bereitet hat, die ihn lieben.
Wo steht Dieses geschrieben? Man sagt, „es steht geschrieben,“ wenn Etwas der Hauptsache nach, wenngleich nicht wörtlich, in der Erzählung liegt, oder wenn derselbe Sinn, wenn auch nicht mit denselben Worten, darin enthalten ist, wie hier. Jene Stelle: „Was ihnen nicht S. 109 verkündet war, werden sie sehen, und was sie nicht gehört, werden sie vernehmen“4 — ist Eins mit dieser: „Was kein Auge gesehen und kein Obr gehört hat.“ Er hat nun entweder diese Stelle im Sinne, oder es stand wahrscheinlich in Büchern, die verloren gegangen sind; denn viele Bücher gingen verloren, und wenige wurden erhalten, schon bei der ersten Gefangenschaft. Das ist deutlich zu ersehen aus den Büchern der Chronik. Auch sagt der Apostel, daß „von Samuel’s Zeiten herab alle Propheten von ihm geweissasst haben.“5 Von all Dem besitzen wir aber Nichts mehr; Paulus aber, der ein Gesetzkundiger war und aus Eingebung des heiligen Geistes redete, wußte Dieses ohne Zweifel genau. Und was sage ich von der Gefangenschaft? Schon vor derselben waren viele Bücher verloren gegangen, da die Juden in die äusserste Gottlosigkeit versunken waren. Das ergibt sich offenbar aus dem Schlusse des vierten Buches der Könige: denn das Gesetzbuch wurde mit Mühe aus einem Misthaufen, worunter es vergraben lag, aufgefunden. Übrigens gibt es auch an vielen Stellen doppelte Prophezeiungen, welche von Einsichtsvollern leicht verstanden werden, und woraus sich viele dunkle Stellen beleuchten lassen.
Wie nun? „Hat also kein Auge gesehen, was Gott bereitet hat?“ Nein; denn welcher Mensch wußte die Heilsordnung, die Gott ausführen wollte? Also „hat“ auch „kein Ohr es gehört, und in keines Menschen Herz ist es gekommen.“ Aber wie so? Wenn die Propheten Dieß gesagt haben, wie kann er denn sprechen: „Kein Obr hat es gehört, und in keines Menschen Herz ist es gekommen?“ Es ist in keines Menschen Herz gekommen; denn der Apostel spricht nicht bloß von jenen Menschen, sondern von der ganzen menschlichen Natur. — Wie? haben es denn die Propheten nicht gehört? Wohl S. 110 haben sie es gehört; aber das Propheten-Ohr war kein Menschen-Ohr; denn sie hörten es nicht als Menschen, sondern als Propheten. Daher heißt es: „Der Herr öffnete mir das Ohr, auf daß ich höre,“6 worunter er die Eröffnung durch den Geist versteht. Daraus leuchtet ein, daß es, bevor es gehört wurde, in keines Menschen Herz gekommen war. Denn nach der Mittheilung des heiligen Geistes war es nicht mehr ein Menschenherz, sondern ein Geistesherz, ein Prohhetenherz, wie denn auch der Apostel spricht: „Wir haben Christi Sinn.“7 Er will damit sagen: Ehe wir den heiligen Geist empfangen und jene geheimnißvollen Dinge gelernet, hatte weder aus uns noch aus den Propheten irgend Einer davon Kenntniß, ja nicht einmal die Engel wußten darum. Was soll man dann von den Fürsten dieser Welt sagen, da weder ein Mensch noch die himmlischen Mächte Dieß wußten? Und was sind das für Dinge? Daß durch die thöricht scheinende Lehre des Evangeliums der Erdkreis besiegt, die Völker zum Glauben bekehrt, die Menschheit mit Gott versöhnt und so große Güter uns zu Theil werden sollten. — Wie sind wir also zu dieser Kenntniß gelangt?
10. Uns aber, heißt es, hat es Gott durch seinen Geist geoffenbaret.
Nicht durch die weltliche Weisheit; denn diese als eine niedrige Magd wurde nicht zugelassen, die Geheimnisse des Herrn zu schauen.
