9. Kapitel. Wenn auch nur eine Person von der Schrift genannt wird, sind doch bisweilen alle gemeint.
So sprach er, nicht weil das Wort Gottes und der Heilige Geist ungleich sind, sondern weil die Gegenwart des Menschensohnes in ihrer Mitte gleichsam ein Hindernis gewesen wäre für das Kommen dessen, der nicht geringer war, weil er sich nicht, Knechtsgestalt annehmend, erniedrigte wie der Sohn.1 Es mußte also ihren Augen die Knechtsgestalt entzogen werden, durch deren Anblick sie zur Meinung verführt wurden, Christus sei nur das, was man sehe. In diesem Sinne ist auch das Wort zu verstehen: „Wenn ihr mich liebtet, würdet ihr euch freuen, daß ich zum Vater gehe. Denn der Vater ist größer als ich“,2 das heißt: Deshalb muß ich zum Vater gehen, weil ihr, solange ihr mich seht, auf Grund dessen, was ihr seht, die Meinung hegt, ich sei geringer als der Vater, und so, gefangen genommen durch das Geschöpfliche an mir und die von mir angenommene äußere Erscheinung, meine Gleichheit mit dem Vater nicht einseht. Ebenso ist es mit dem Wort: „Rühr’ mich nicht an; denn ich bin noch nicht zum Vater aufgestiegen.“3 Die Berührung bedeutet nämlich gleichsam das Endziel des Sichkennens. Deshalb ließ er nicht zu, daß in ihr die Hinzuwendung des Herzens zu ihm ihr Endziel finde, so daß das Sichtbare an ihm für seine ganze Wirklichkeit gehalten worden wäre. Das Aufsteigen zum Vater aber bedeutete: in der Gleichheit S. 29 mit dem Vater gesehen werden, auf daß dort das Endziel des Schauens eintrete, das uns genügt. Manchmal wird ebenso auch vom Sohne allein gesagt, daß er genügt, und uns seine Anschauung als der ganze Lohn für unsere Liebe und unsere Sehnsucht verheißen. Er selbst sagt nämlich: „Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt. Wer aber mich liebt, der wird von meinem Vater geliebt werden, und ich werde ihn lieben und werde mich ihm offenbaren.“4 Hat er etwa hier, weil er nicht sagte: ich werde ihm auch den Vater offenbaren, den Vater vom Schauen ausgeschlossen? Nein. Denn weil die Wahrheit gilt: „Ich und der Vater sind eins“,5 deshalb wird, wenn der Vater geoffenbart wird, zugleich der Sohn geoffenbart, der in ihm ist, und wenn der Sohn geoffenbart wird, zugleich der Vater, der in ihm ist. Wenn er also sagt: „Ich werde mich ihm offenbaren“,6 so ist dabei mitzuverstehen, daß er auch den Vater offenbart. Ebenso muß man bei dem Worte: „Wenn er das Reich Gott dem Vater übergibt“,7 mithören, daß er es sich nicht wegnimmt. Denn wenn er die Gläubigen zur Anschauung Gottes des Vaters führt, dann führt er sie wahrhaftig zur Anschauung seiner selbst, da er doch sagte: „Ich werde mich ihm selbst offenbaren.“ Deshalb hat Jesus auf die Frage des Judas: „Herr, wie kommt es, daß du dich uns offenbaren willst und nicht dieser Welt?“, folgerichtig geantwortet: „Wenn jemand mich liebt, dann wird er mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“8 Siehe da, wie er nicht allein sich selbst seinem Liebhaber offenbart, da er zugleich mit dem Vater zu ihm kommt und Wohnung bei ihm nimmt!
19. Darf man nun etwa glauben, daß der Heilige Geist ausgeschlossen ist, wenn Vater und Sohn in ihrem Liebhaber Wohnung nehmen? Was hätte es dann für einen S. 30 Sinn, daß er zuvor vom Heiligen Geiste sagt: „Ihn kann diese Welt nicht empfangen, weil sie ihn nicht sieht; ihr kennt ihn, weil er bei euch bleibt und in euch ist.“9 Da es also von ihm heißt: „Er bleibt bei euch und ist in euch“, so ist er von diesem Wohnungnehmen nicht ausgeschlossen. Niemand wird wohl so töricht sein zu glauben, daß der Heilige Geist, wenn Vater und Sohn bei ihrem Liebhaber Einkehr halten, von ihm weggeht und gleichsam den Größeren Platz macht. Einer solch irdischen Vorstellungsweise steht die Schrift entgegen. Denn sie sagt kurz zuvor: „Und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Beistand geben, auf daß er bei euch sei in Ewigkeit.“10 Nicht also entfernt sich der Heilige Geist, wenn Vater und Sohn kommen, sondern in derselben Wohnung wird er mit ihnen bleiben in Ewigkeit, da weder er ohne sie kommt, noch sie ohne ihn kommen. Um jedoch auf die Dreieinigkeit hinzuweisen, macht die Schrift manchmal Sonderaussagen von den einzeln benannten Personen. Doch dürfen diese nicht von einer Person unter Ausschluß der beiden anderen verstanden werden, wegen der Einheit der Dreieinigkeit und wegen der einen Substanz und Göttlichkeit des Vaters, Sohnes und Heiligen Geistes.