12. Kapitel. Weitere Beispiele für die verschiedenartigen Aussagen der Heiligen Schrift, indem sie bald von seiner menschlichen, bald von seiner göttlichen Natur redet.
Von ihr gilt auch: „Den Tag und die Stunde weiß niemand, auch nicht die Engel im Himmel, auch nicht der Menschensohn.“1 Er weiß nämlich das nicht, was er nicht wissen läßt, das heißt, was er nicht mit der Bestimmung wußte, es zu jener Zeit seinen Jüngern zu offenbaren. So wurde auch zu Abraham gesagt: „Jetzt habe ich erkannt, daß du Gott fürchtest“,2 das heißt: Jetzt führte ich dich zu dieser Erkenntnis; er hat nämlich selber in jener Prüfung seine Bewährung sich zum Bewußtsein gebracht. Er war ja doch entschlossen, seinen Jüngern zur rechten Zeit auch jene Tatsache mitzuteilen, die erst die Zukunft bringen sollte, von der er aber sprach, wie wenn sie schon eingetreten wäre, wenn er sagt: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte, sondern Freunde. Der Knecht kennt den Willen seines Herrn nicht; euch aber habe ich Freunde genannt, weil ich alles, was ich vom Vater gehört habe, euch mitgeteilt habe.“3 Er hatte das zwar noch nicht getan; weil er aber fest entschlossen war, es zu tun, sprach er davon, wie wenn er es schon getan hätte. Sagt er doch zu ihnen: „Vieles habe ich euch noch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt noch nicht tragen.“4 Dazu ist zu rechnen auch das Wort: „jenen Tag und die Stunde“. Auch der Apostel sagt ja: „Ich glaubte kein anderes Wissen unter euch zeigen zu sollen S. 37 als das von Jesus Christus, und zwar dem Gekreuzigten.“5 Er sprach nämlich zu solchen, welche die erhabeneren Wahrheiten über die Gottheit Christi nicht fassen konnten. Zu ihnen sagt er gleich darauf auch folgendes: „Ich konnte zu euch nicht wie zu Geistesmenschen, sondern wie zu fleischlichen Christen reden.“6 Das also wußte er bei ihnen nicht, wovon sie durch ihn Wissen zu empfangen nicht fähig waren. Und das allein behauptete er zu wissen, wovon sie durch ihn Wissen empfangen sollten. Bei den Vollkommenen wußte er nämlich, was er bei den Unmündigen nicht wußte. Sagt er doch: „Weisheit verkünden wir bei den Vollkommenen.“7 In der gleichen Ausdrucksweise kann man nämlich von jemandem sagen, daß er nicht weiß, was er verbirgt, wie man einen Graben, der verborgen ist, blind nennt. Die heiligen Schriften bedienen sich ja keiner Ausdrucksweise, die im gewöhnlichen menschlichen Leben nicht üblich ist; reden sie doch zu Menschen.
24. Von der Gottesgestalt gilt: „Vor allen Hügeln hat er mich gezeugt,“8 das heißt: vor allen geschaffenen Gipfeln, und: „Vor der Morgenröte habe ich dich gezeugt“,9 das heißt: vor allen Zeiten und zeithaften Dingen. Von der Knechtsgestalt aber gilt: „Der Herr schuf mich im Anfang seiner Wege.“10 Von der Gottesgestalt sagte er: „Ich bin die Wahrheit“,11 von der Knechtsgestalt: „Ich bin der Weg.“12 Weil nämlich er, der „Erstgeborene von den Toten“,13 zum Reiche Gottes, zum ewigen Leben, seiner Kirche den Weg schuf, deren Haupt er ist zur Unsterblichkeit auch des Leibes, deshalb ist er im Anfang der Wege geschaffen, die zu den Werken Gottes führen. Hinsichtlich der Gottesgestalt ist er der Anfang, der auch selber zu uns spricht.14 In diesem Anfang schuf Gott Himmel und Erde;15 hinsichtlich der Knechtsgestalt jedoch gilt: „Der Bräutigam kam S. 38 von seinem Gemach.“16 Hinsichtlich der Gottesgestalt „ist er der Erstgeborne vor aller Schöpfung, ist er vor allem, und alles hat in ihm Bestand“.17 Hinsichtlich der Knechtsgestalt „ist er das Haupt seines Leibes, der Kirche“.18 Hinsichtlich der Gottesgestalt ist er der Herr der Herrlichkeit.19 Daher ist es offenkundig, daß er seine Heiligen verherrlicht. Denn „diejenigen, welche er vorherbestimmt hat, hat er auch gerufen; die er aber gerufen hat, hat er auch gerechtfertigt; die er aber gerechtfertigt hat, hat er auch verherrlicht“.20 Von ihm gilt das Wort, daß er den Ungerechten gerecht macht.21 Von ihm heißt es, daß er gerecht und rechtfertigend ist.22 Wenn er also jene, die er gerechtfertigt hat, auch verherrlicht hat, dann ist der, welcher rechtfertigt, der gleiche, welcher auch verherrlicht — der Herr der Herrlichkeit, wie ich sagte.
Hinsichtlich der Knechtsgestalt jedoch sagte er seinen Jüngern, die sich wegen ihrer Verherrlichung zankten: „Das Sitzen zu meiner Rechten oder Linken habe nicht ich zu verleihen, sondern kommt denen zu, für die es von meinem Vater bestimmt ist.“23
25. Was aber von seinem Vater bestimmt ist, ist auch vom Sohne selber bestimmt, weil er und der Vater eins sind.24 Wir haben ja schon gezeigt, daß bei dieser Dreieinigkeit in mannigfacher Redeweise der heiligen Schriften auch von einzelnen Personen ausgesagt wird, was allen eigen ist, und zwar wegen des untrennbaren Wirkens der einen und selben göttlichen Substanz. So sagt er ja auch vom Heiligen Geiste: „Wenn ich hingehe, werde ich ihn euch senden.“25 Er sagt nicht: „Wir werden ihn schicken“, sondern redet so, wie wenn nur der Sohn ihn schicken würde und nicht der Vater, während er an einer anderen Stelle sagt: „Das habe ich euch gesagt, da ich noch bei euch weile. Der Beistand aber, S. 39 der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, er wird euch alles erklären.“26 Hier wird wieder so gesprochen, wie wenn ihn nicht zugleich auch der Sohn senden würde, sondern nur der Vater. Wie hier, so ist es auch mit dem Wort: „denen es von meinem Vater bestimmt ist“. Er wollte es so verstanden wissen, daß er gemeinsam mit dem Vater die Sitze der Herrlichkeit bestimmt, für wen er will. Doch da könnte jemand sagen: Dort, wo er vom Heiligen Geiste spricht, schreibt er sich dessen Sendung zu, ohne sie dem Vater ausdrücklich abzusprechen, und an der anderen Stelle schreibt er sie dem Vater zu, ohne sie sich abzusprechen; hier jedoch sagt er offenkundig: „Ich habe nicht zu verleihen.“ Und fortfahrend versichert er, daß es vom Vater vorherbestimmt ist. Doch hier gilt, was wir vorher aufstellten: Das Wort ist von der Knechtsgestalt gemeint. Das Wort: „Ich habe nicht zu verleihen“ muß man also so verstehen, wie wenn es hieße: Menschliche Macht hat das nicht zu verleihen, auf daß man einsehe, daß er auf Grund jener Wirklichkeit es zu verleihen hat, in der er Gott dem Vater gleich ist. Sein Wort: „Ich habe nicht zu verleihen“ heißt also: Nicht auf Grund menschlicher Macht verleihe ich es, sondern denen kommt es zu, für die es von meinem Vater bestimmt ist; raffe du dich aber zu der Einsicht auf, daß ich, wenn „alles, was der Vater hat, mein ist“,27 auch das habe und daß ich mit dem Vater jene Sitze bestimmt habe.
26. Ich frage auch, wie das Wort gemeint ist: „Wenn jemand meine Worte hört, so werde ich ihn nicht richten.“28 Sollte er nicht etwa hier im gleichen Sinne gesagt haben: „Ich werde ihn nicht richten“, wie er dort sagte: „Ich habe nicht zu verleihen“? Doch was folgt hier? „Ich bin nicht gekommen“, spricht er, „die Welt zu richten, sondern die Welt selig zu machen.“ Dann fährt er fort und sagt: „Wer mich verachtet und meine Worte nicht annimmt, der hat schon seinen Richter.“29 S. 40 Hier würden wir an den Vater denken, wenn er nicht fortführe: „Das Wort, das ich verkündet habe, das wird ihn richten am Jüngsten Tage.“30 Was ist also richtig? Richtet etwa weder der Sohn, weil er sagte: „Ich richte ihn nicht“, noch der Vater, sondern das Wort, welches der Sohn verkündet hat? Nein. Höre vielmehr, was er weiter sagt: „Denn ich habe nicht von mir aus geredet, sondern der Vater, der mich sandte, hat mir geboten, was ich sagen und verkünden soll, und ich weiß, daß sein Gebot ewiges Leben ist. Was ich also sage, das sage ich so, wie es mir der Vater geboten hat.“31 Wenn also nicht der Sohn richtet, sondern das Wort, welches der Sohn verkündet hat, das Wort aber, welches der Sohn gesprochen hat, deshalb richtet, weil es der Sohn nicht von sich verkündet hat, sondern weil der Vater, der ihn sandte, ihm gebot, was er sagen und verkünden soll, dann richtet doch jedenfalls der Vater, dessen Wort es ist, das der Sohn verkündet hat — und dieses Wort des Vaters ist nichts anderes als der Sohn. Denn nicht ist etwas anderes das Gebot des Vaters, etwas anderes das Wort des Vaters. Denn das gleiche nannte er sowohl Wort als auch Gebot. Sehen wir also zu, ob er nicht etwa das Wort: „Ich habe nicht aus mir gesprochen“, in dem Sinn: „Ich bin nicht von mir geboren“ verstanden wissen will! Wenn er nämlich das Wort des Vaters verkündet, dann verkündet er sich selbst, weil er selbst das Wort des Vaters ist. Häufig sagt er nämlich: „Der Vater hat mir gegeben“, worunter er verstanden wissen will, daß ihn der Vater gezeugt hat; nicht meint er damit, daß der Vater ihm etwas gab, als er schon existierte und das Gegebene noch nicht hatte, sondern das Geben des Vaters zum Besitze ist soviel wie: zeugen zum Existieren. Denn nicht wie beim Geschöpfe ist beim Sohne Gottes vor der Menschwerdung und Annahme der geschöpflichen Natur, bei dem Eingeborenen, durch den alles geworden ist,32 etwas anderes S. 41 das Sein, etwas anderes das Haben. Vielmehr ist sein Sein zugleich sein Haben. Das kommt für den, der fähig ist, es zu verstehen, klar genug an der Stelle zum Ausdruck, wo es heißt: „Wie der Vater das Leben in sich selbst hat, so hat er dem Sohne verliehen, das Leben in sich selbst zu haben.“33 Denn nicht dem schon Existierenden und das Leben noch nicht Besitzenden verlieh er, das Leben in sich selbst zu haben, da er eben dadurch, daß er ist, das Leben ist. Das Wort: „Er verlieh ihm, das Leben in sich selbst zu haben“, bedeutet also, daß er den Sohn als unwandelbares Leben zeugte, welches das ewige Leben ist. Da also das Wort Gottes der Sohn Gottes ist, und der Sohn Gottes „der wahre Gott und das ewige Leben“ ist, wie Johannes in seinem Briefe sagt,34 so müssen wir den gleichen Sachverhalt annehmen dort, wo der Herr sagt: „Das Wort, welches ich verkündet habe, wird ihn richten am Jüngsten Tage“, und wo er versichert, daß sein Wort des Vaters Wort und Gebot und das Gebot selbst das ewige Leben ist. „Ich weiß“, sagt er, „daß sein Gebot ewiges Leben ist.“35
27. Ich frage also, wie wir das Wort: „Ich richte nicht, sondern das Wort, das ich verkünde, wird richten“, verstehen sollen, das, wie sich aus dem anschließenden Text ergibt, soviel bedeutet wie: Ich will nicht richten, sondern das Wort des Vaters wird richten. Das Wort des Vaters ist aber der Sohn Gottes selbst. Hat es also nicht etwa den Sinn: Ich werde nicht richten, aber ich werde richten? Wie kann das richtig sein, wenn man die Stelle nicht so versteht: Ich werde nicht richten auf Grund menschlicher Macht, weil ich der Menschensohn bin, sondern ich werde richten auf Grund der Macht des Wortes, weil ich Gottes Sohn bin. Will man etwa in der Aussage: Ich werde nicht richten, aber ich werde richten, Widerspruch und Gegensatz sehen? Was sollen wir dann von dem Worte sagen: „Meine Lehre ist nicht die meinige?“36 Wieso gilt: „meine“, wieso: S. 42 „nicht die meinige“? Er sagte ja nicht: Diese Lehre ist nicht meine Lehre, sondern: Meine Lehre ist nicht meine Lehre. Die gleiche, die er die seinige hieß, hieß er nicht die seinige. Wie soll das wahr sein, wenn er nicht die gleiche Lehre unter einem Gesichtspunkt die seinige, unter einem anderen nicht die seinige nennen würde, sofern er in Gottesgestalt ist, die seinige, sofern er in Knechtsgestalt ist, nicht die seinige? Wo er nämlich sagt: „Meine Lehre ist nicht die meinige, sondern die Lehre dessen, der mich sandte“, da verweist er uns eben auf das Wort selbst. Die Lehre des Vaters ist nämlich das Wort des Vaters, welches der eingeborene Sohn des Vaters ist. Was hat weiterhin das Wort: „Wer an mich glaubt, der glaubt nicht an mich“,37 für einen Sinn? Wieso glaubt man an ihn, wieso nicht an ihn? Wie soll man so Gegensätzliches und Widerspruchsvolles verstehen? „Wer an mich glaubt“, sagt er, „glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat.“ Man kann es nur so verstehen: Wer an mich glaubt, glaubt nicht an das Sichtbare, auf daß unsere Hoffnung sich nicht richte auf ein Geschöpf, sondern auf ihn, der die geschöpfliche Natur annahm, in der er den menschlichen Augen erscheinen und so die Herzen durch den Glauben reinigen sollte, damit sie seine Gleichheit mit dem Vater schauen könnten. Wenn er daher den Blick der Gläubigen auf den Vater hinlenkt und sagt: „Wer an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat“, so wollte er nicht, daß man ihn vom Vater, das heißt von dem, der ihn sandte, absondere, sondern daß man so an ihn glaube wie an den Vater, dem er gleich ist. Klar sagt er das an einer anderen Stelle: „Glaubet an Gott und glaubet auch an mich.“38 Das heißt: Wie ihr an Gott glaubt, so auch an mich, weil ich und der Vater ein Gott sind. Wie er also hier den Glauben der Menschen gleichsam von sich selber loslöst und an den Vater bindet, indem er sagt: „Er glaubt S. 43 nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat“, von dem er sich jedoch nicht trennt, so ist es nach meiner Meinung auch bei dem Worte: „Ich habe nicht zu verleihen, sondern es kommt denen zu, für die es vom Vater bestimmt ist“,39 klar, wie jedes Glied des Aussagepaares zu verstehen ist.
So ist es nämlich auch mit dem Wort: „Ich richte nicht“, wo er doch die Lebendigen und Toten richten wird.40 Weil er aber nicht auf Grund menschlicher Macht richten wird, deshalb verweist er auf die Gottheit und richtet so die menschlichen Herzen empor — um sie zur Höhe zu führen, ist er ja herabgestiegen.
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Mark. 13, 32. ↩
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Gen. 22, 12. ↩
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Joh. 15, 15. ↩
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Joh. 16, 12. ↩
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1 Kor. 2, 2. ↩
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1 Kor. 3, 1. ↩
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1 Kor. 2, 6. ↩
-
Sprichw. 8, 25. ↩
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Ps. 109, 3 [hebr. Ps. 110, 3]. ↩
-
Sprichw. 8, 22. ↩
-
Joh. 14, 6. ↩
-
Joh. 14, 6. ↩
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Offenb. 1, 5. ↩
-
Joh. 8, 25. ↩
-
Gen. 1, 1. ↩
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Ps. 18, 6 [hebr. Ps. 19, 6]. ↩
-
Kol. 1, 5―17. ↩
-
Kol. 1, 18. ↩
-
1 Kor. 2, 8. ↩
-
Röm. 8, 30. ↩
-
Röm. 4, 5. ↩
-
Röm. 3, 26. ↩
-
Matth. 20, 23. ↩
-
Joh. 10, 30. ↩
-
Joh. 16, 7. ↩
-
Joh. 14, 25 f. ↩
-
Joh. 16, 15. ↩
-
Joh. 12, 47. ↩
-
Joh. 12, 48. ↩
-
Joh. 12, 48. ↩
-
Joh. 12, 49 f. ↩
-
Joh. 1, 3. ↩
-
Joh. 5, 26. ↩
-
1 Joh. 5, 20. ↩
-
Joh. 12, 50. ↩
-
Joh. 7, 16. ↩
-
Joh. 12, 44. ↩
-
Joh. 14, 1. ↩
-
Matth. 20, 23. ↩
-
Tim. 4, 1. ↩