Fünfter Irtikel. Die menschliche Vernunft erkennt dadurch, daß sie zusammensetzt und trennt.
a) Dem scheint nicht so zu sein. Denn: I. Zusammensetzen und Trennen setzt voraus, daß Vieles zugleich erkannt wird. Das aber kann die Vernunft nicht. II. Allem Zusammensetzen und Trennen haftet die Zeit: Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, an. Die Vernunft aber sieht ab von der Zeit. III. Die Vernunft versteht dadurch, daß sie den Dingen ähnlich wird. In den Dingen aber ist kein Zusammensetzen und Trennen. Denn es wird da nur die eine Sache gefunden, welche durch Subjekt und Prädikat zusammen ausgedrückt wird, falls beide gut miteinander verbunden sind. Der„Mensch“ nämlich ist wahrhaft das, was man „sinnbegabt“ nennt. Auf der anderen Seite werden die Auffassungen der Vernunft durch Worte ausgedrückt und bezeichnet. In den Worten aber besteht ein Zusammensetzen und ein Trennen, da es bejahende und verneinende Sätze giebt. Also setzt auch die Vernunft das eine mit dem anderen zusammen oder trennt das eine vom anderen.
b) Ich antworte, daß die menschliche Vernunft ein thatsächliches Erkennen nur erzielt dadurch, daß sie verbindet und trennt. Denn 1. geht sie vom Zustande des Vermögens über zu dem der Thätigkeit und ist somit ähnlich den dem Entstehen und Vergehen unterliegenden Dingen, welche nur allmählig und nicht von Anfang an in den Besitz ihrer Vollendung kommen; — 2. faßt die Vernunft nicht im ersten Auffassen die ganze Vollendung eines Dinges in sich zusammen. Vielmehr faßt sie zuerst etwas vond er betreffenden Sache auf, nämlich die Wesensnatur derselben, die da ist der erste und eigenste Erkenntnisgegenstand; und dann erst erkennt sie die Eigenschaften und sonstige Beziehungen zu anderem Sein, welche der vorliegenden Sache innewohnen. Und deshalb muß die Vernunft das eine, was sie erfaßt hat, mit dem anderen verbinden und von anderem trennen und so von dem einen Zusammensetzen und Trennen zum anderen gelangen, was nichts Anderes ist als die Kunst, vom einen auf das andere zu schließen. Die göttliche und die Engelvernunft haben dagegen als unvergängliche Substanzen von Anfang an ihre Vollendung. In einer Auffassung besitzen sie die ganze Vollendung des Gegenstandes, zu deren Kenntnis wir erst durch Zusammensetzung und Trennung der Auffassungen untereinander gelangen. Demnach kennt wohl die göttliche und die Engelvernunft unser Zusammensetzen und Trennen, also unser Schließen; aber diese Erkenntnis vollzieht sich durch das einfache Verständnis der Wahrheit.
c) I. Das Zusammensetzen und Trennen vollzieht die Vernunft gemäß dem, daß sie den Unterschied kennt und vergleicht. Also erkennt sie Vieles durch Zusammensetzen und Trennen in der nämlichen Einheit, in welcher sie den Unterschied oder den Vergleich auffaßt. II. Von seiten der Phantasiegebilde her, zu denen die Vernunft sich wenden muß, um thatsächlich zu erkennen, haftet dem Zusammensetzen und Trennen der Vernunft die Zeit an. (Lib. de memoria et reminisc. c. 1.) III. Die Ähnlichkeit des erkannten Dinges ist in der Vernunft gemäß deren Seinsweise, nicht nach der Beschaffenheit des Dinges. Sonach entspricht wohl dem Zusammensetzen und Trennen der Vernunft etwas auf seiten des Dinges; aber auf beiden Seiten ist das nicht in derselben Artund Weise zu finden. Der eigenste Gegenstand der menschlichen Vernunft nämlich ist die Wesenheit des stofflichen Dinges, welches als einzelnes, als besonderes dem Sinne und der Einbildungskraft zugänglich ist. Nun wird aber im stofflichen Dinge eine doppelte Zusammensetzung gefunden: Die erste ist die zwischen der allgemeinen Wesensform und dem Stoffe, dem Princip der Einzelheiten. Dieser Zusammensetzung entspricht auf seiten der Vernunft jenes Zusammensetzen, vermöge dessen das Ganze als Allgemeines von den Teilen ausgesagt wird; wie ich z. B. vom Menschen sage: er ist sinnbegabt, wo das Prädikat „sinnbegabt“ das Allgemeine als Ganzes ist, welches in seine Teile, Tier und Mensch, zerfällt. Denn die „Art“ wird abgeleitet oder hergenommen vom Stoffe im allgemeinen oder als etwas Gemeinsames aufgefaßt; das unterscheidende Gattungsmerkmal kommt von der Wesensform; das Einzelne aber vom besonderen Stoffe. Die zweite Zusammensetzung auf seiten des Dinges ist die zwischen dem bereits für sich bestehenden Sein und dessen Eigenschaft, dem Subjekt und dem Accidens. Dieser Zusammensetzung entspricht in der Vernunft jene, der gemäß die betreffende Eigenschaft mit dem Subjekt zu einer Einheit verbunden und so von selbem ausgesagt wird; wie wenn ich sage: Der Mensch ist weiß. Indessen ist das Zusammensetzen, welches der Vernunft zueignet, verschieden von der Zusammensetzung, die in den Dingen herrscht. Denn was in einem Dinge miteinander verbunden ist, das ist und bleibt an sich verschieden; das Zusammensetzen von seiten der Vernunft aber ist das Zeichen der Einheit und Identität dessen, was verbunden wird. Denn nicht so verbindet die Vernunft, daß sie sagt: der Mensch ist die weiße Farbe; sondern so, daß sie sagt: der Mensch hat die weiße Farbe; er ist weiß. Das gleiche subjektive Sein aber ist Mensch und ist besitzend die weiße Farbe. Und ähnlich verhält es sich mit der Zusammensetzung von Stoff und Form. Denn „Tier“ bezeichnet das, was da hat die sinnliche Natur; „vernünftig“ ebenso, was da hat die vernünftige Natur; „Mensch“ aber, was da beides hat; und „Sokrates“, was alles dies hat zusammen mit dem einzelnen Stoffe. Gemäß der Natur dieser Einheit also im Aussagen setzt zusammen unsere Vernunft und trennt.
