Sechster Artikel. Unsere Vernunft und das Falsche.
a) Es scheint, daß in unserer Vernunft Falsches sein kann. Denn: I. Aristoteles sagt (6 Metaph.): „Im vernünftigen Geiste ist das Wahre und Falsche.“ II. Meinen und Schließen gehört der Vernunft an. In beiden aber wird Falsches gefunden. III. Die Sünde ist im vernünftigen Teile. Dieselbe ist aber mit Falschem verbunden. Denn „es irren, die Übles thun“. (Prov. 14, 22.) Auf der anderen Seite sagt Augustin (83. Qq. 32.): „Jeder-, welcher irrt, erkennt das nicht, worin er irrt;“ und Aristoteles (3. de anima): „Die Vernunft ist immer wahr.“
b) Ich antworte; Aristoteles vergleicht rücksichtlich dieses Punktes die Vernunft mit dem Sinne. Letzterer irrt nicht in dem ihm eigenen Gegenstande, wie z. B. das Auge in der Farbe; außer etwa wegen eines Hindernisses im stofflichen Organ, wie wenn die Zunge des Fieberkranken das Süße für Bitteres erachtet. Betreffs aber des sinnlich Wahrnehmbaren im allgemeinen (sensibilia oommunia) irrt der Sinn; wie wenn er über die Größe oder Figur urteilt, die Sonne z. B. für einen Fuß im Durchmesser haltend erachtet, während sie größer ist als die Erde. Und noch mehr irrt der Sinn in dem, was nur zufällig und von außen her dem ihm eigenen Gegenstande anhaftet; wie wenn er meint, die Galle sei Honig wegen der ähnlichen Farbe. Der Grund davon ist offenbar. Denn jedem Vermögen entspricht naturgemäß die Beziehung zu einem eigenen Gegenstande. So lange also die Natur des Vermögens verharrt, bleibt unfehlbar diese Beziehung; also bleibt auch immer das Urteil über diesen Gegenstand dasselbe. Nun ist aber der Gegenstand, welcher der Natur der Vernunft entspricht, das Wesen des Dinges. Also mit Rücksicht auf die Wesenheit des Dinges irrt die Vernunft an und für sich nicht. Sie kann jedoch irren rücksichtlich der Eigenschaften und Beziehungen, welche das Wesen umgeben; wenn sie nämlich das eine auf das andere bezieht dadurch, daß sie verbindet oder trennt und somit schließend vorgeht. In allen dementsprechenden Sätzen also kann Täuschung walten, während jene Sätze, welche gleich von vornherein bekannt sind, wenn nur die Ausdrücke, aus denen sie bestehen, erfaßt worden, immer wahr sein müssen; und somit auch das Princip bilden, welches den daraus durch Zusammensetzen und Trennen gefolgerten Sätzen Zuverlässigkeit und Gewißheit verleiht. Es kann jedoch auch rücksichtlich der Auffassung des Wesens ein Irrtum vorkommen und zwar auf Grund solcher Ursachen, welche für die eigentliche Vernunft äußerlich sind und deshalb nicht in ihrer Gewalt stehen. Allerdings ist nicht die Rede davon, daß wegen der mangelhaften Verfassung eines körperlichen Organs ein Irrtum in der Beurteilung der Wesenheit des Dinges eintreten kann; denn die Vernunft bedient sich in ihrer inneren naturgemäßen Thätigkeit keines Organs. Wohl aber kann das Zusammensetzen und Trennen Veranlassung zu Irrtum geben, wenn nämlich die Begriffsbestimmung des einen Dinges angewendet wird auf ein anderes; z. B. der Begriff des Kreises übertragen und verbunden wird mit dem, was thatsächlich dreieckig ist; oder wenn zu einer Begriffsbestimmung Elemente verbunden werden, die zu einander im Widersprüche stehen; wie z. B. wenn gesagt wird: ein sinnbegabtes geflügeltes vernünftiges Wesen. In den einfachen Dingen also, in deren Begriffsbestimmung das Zusammensetzen keine Stelle findet, können wir nicht irren; außer daß wir dieselben nicht ganz und gar erkennend erreichen. (9 Metaph.)
c) I., II. und III. Aus dem Zusammensetzen und Trennen kann Irrtum folgen, wie wenn der Sünder eine falsche Anwendung des Allgemeinen, wahr Erkannten auf das einzelne begehrte Gut macht. In der einfachen Auffassung des Wesens und dessen, was aus dem Wesen notwendig folgt, irrt die Vernunft nicht; nur in der Vergegenwärtigung desselben.
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