Vierter Artikel. Die Vernunft kann nicht zugleich vieles vermittelst verschiedener Ideen verstehen.
a) Die Vernunft scheint Vieles zugleich verstehen zu können. Denn: I. Früher und Später gehören der Zeit an; die Vernunft aber ist erhaben über die Zeit. Also versteht sie Verschiedenes zugleich. II. Die Ideen haben keinen Gegensatz untereinander. Also können verschiedene Ideen zu gleicher Zeit die Vernunft formen; wie z. B. Geruch und Farbe zugleich im Apfel sind. III. Die Vernunft erkennt in einem Akte, also zugleich, das Ganze, wie den Menschen oder das Haus. In jedem Ganzen aber sind verschiedene Teile. Also erkennt sie Verschiedenes zugleich. IV. Der Unterschied zwischen dem einen und dem anderen kann nicht erfaßt werden, wenn nicht das eine und das andere zugleich erfaßt wird.(1. de anima.) Die Vernunft aber erkennt den Unterschied der Dinge und vergleicht das eine mit dem anderen. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (2 Topic. 4.): „Verstehen kann man nur Eines; wissen Vieles.“
b) Ich antworte, daß die Vernunft viele Dinge zugleich verstehen kann, wenn diese in ein und derselben Idee oder Erkenntnisform enthalten sind; nicht aber, wenn es sich um mehrere Ideen als formende Richtschnur der Erkenntnis handelt. Denn die Art und Weise jeglichen Thätigseins entspricht der Form, welche das Princip des Thätigseins bildet. Was also die Vernunft vermittelst ein und derselben Form verstehen kann, das versteht sie zu gleicher Zeit; wie Gott z. B. Alles zugleich sieht, weil seine Erkenntnisform eine einige ist, sein Wesen. Wozu aber verschiedene Ideen gehören, damit es verstanden werde; das wird nicht zugleich verstanden. Der Grund davon ist, daß unmöglich ein und dasselbe Sein oder Subjekt vollendet werden kann durch mehrere Formen derselben „Art“ und verschiedener Gattungen; wie ein und derselbe Körper unmöglich mit verschiedenen Farben zugleich in allen seinen Teilen gefärbt sein oder zugleich ein Dreieck oder ein Viereck sein kann. Alle Ideen aber sind derselben „Art“; denn sie vollenden ein und dieselbe Erkenntniskraft; wenn auch die Dinge, denen sie entsprechen, verschiedenen Seinsarten angehören. Unmöglich kann also die Vernunft zu gleicher Zeit durch mehrere Ideen geformt werden.
c). I. Allerdings ist die Vernunft über die Zeit erhaben, welche die Zahl für die Bewegungen der körperlichen Dinge ist. Jedoch die Mehrheit der Ideen selber verursacht eine gewisse Aufeinanderfolge und Abwechslung in der vernünftigen Thätigkeit; wonach die eine früher ist als die andere, die eine den Grund für das Eintreten der anderen abgiebt. Und dies nennt Augustin „Zeit“, wenn er sagt, „Gott bewege oder bestimme die geistige Natur vermittelst der Zeit,“ nämlich der Abwechslung in den Aklten. II. Die Wesensformen brauchen nicht im Gegensatze zu einander zu stehen, damit sie nicht zugleich in ein und demselben Subjekte sein können; — es genügt, daß die Wesensformen ein und derselben „Art“ voneinander verschieden sind, um nicht zugleich ein und dasselbe Subjekt formen zu können; wie das bei den Farben und Figuren klar ist. III. Werden die Teile als Teile gekannt, so sind sie inbegriffen in der Idee des Ganzen und werden so zugleich erkannt. Soll aber jeder der Teile für sich als verschieden vom Ganzen und von den anderen Teilen erkannt werden, also vermittelst einer eigenen Idee, so werden sie nicht zugleich .erkannt. IV. Erkennt die Vernunft den Unterschied zwischen dem einen und dem anderen, so erkennt sie das eine und das andere unter der Einheit des Unterschiedes oder des Vergleichs; d. h. sie erkennt beides als Teile eines Ganzen, wie sie z. B. unter dem „Vernünftigen“ Engel und Mensch, oder Mensch und Tier auffaßt.
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