Vorwort
S. 241 In sieben Handschriften des Britischen Museums in London, zu denen sich später noch eine achte gesellte, fand der um die syrische Literatur so verdiente Gustav Bickell, damals Professor der orientalischen Sprachen in Münster, eine Sammlung von siebenundsiebzig Gedichten Ephräms, die bisher gänzlich unbekannt geblieben waren. Er gab sie 1866 heraus unter dem Titel: S. Ephraemi Syri Carmina Nisibena, Leipzig, F. A. Brockhaus, 234 und 146 Seiten; außer einer lateinischen Übersetzung und einem Wörterverzeichnis schickte er noch Prolegomena voraus, in denen er alles, was zum Verständnis der Gedichte notwendig ist, eingehend und zuverlässig behandelte, so daß auch neuere Untersuchungen und Funde kaum etwas Wesentliches hinzufügen konnten 1. Vgl. außerdem: Geiger, Alphabetische und akrostichische Lieder bei Ephräm, in der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 21, S. 469 – 74; 25, S. 274, 277 und 512. Dazu nahm Bickell selbst noch einmal das Wort in derselben Zeitschrift 26, S. 809. Die geschichtliche und archäologisohe Bedeutung der Gedichte behandelte auch Rohling im „Katholik“ 1868, II, S. 56 ff.).
Die Echtheit der Gedichte muß als unbestritten gelten; das Zeugnis der Handschriften, deren wichtigste, fast die ganze Sammlung enthaltende, aus dem sechsten Jahrhundert stammt, wird unterstützt durch die Akrosticha mehrerer Gedichte der Sammlung, die den Namen „Ephräm“ ergeben; innere Kriterien bestätigen das Ergebnis.
S. 242 Die äußere Bezeugung der Gedichte in der späteren syrischen Literatur ist freilich ganz auffällig schwach. Ebedjesu von Nisibis, der uns in seinem wertvollen Katalog der Schriftsteller seines Volkes 2 sogar über manches verlorene Schriftwerk Kunde gibt, läßt uns bezüglich der Carmina Nisibena völlig im Stich. Diese müssen demnach wohl frühzeitig ihr aktuelles Interesse eingebüßt haben, so daß wir bis vor der Auffindung der alten Handschrift durch Bickell keinerlei Kenntnis von ihrer Existenz hatten; denn die einzige darauf bezügliche Notiz in der Lebensbeschreibung Ephräms, sowohl in den längeren Rezensionen der römischen und Pariser Handschrift als auch in der kürzeren Fassung, blieb unbeachtet und nötigte auch nicht, an eine so umfangreiche Sammlung zu denken. Sie lautet in der längeren Rezension der Biographie [röm. Ausgabe, 3. syr. Band S. LV; ähnlich nach der Pariser Handschrift bei Lamy, S. Ephraem Syri Hymni et Sermones, 2, S. 74]: „In jener Zeit verfaßte er die Hymnen über Nisibis und über Mar Jakob, über den Kaiser Konstantin, über die Strafgerichte jener Zeit und über die Einnahme der Nisibis benachbarten Städte und der umliegenden Klöster.“ „Utinam exstaret opus tam insigne“, ruft bedauernd J. S. Assemani S. XLVI der Prolegomena des 2. griech.-latein. Bandes aus, nachdem er diese Notiz aus der Vita angeführt hat. Ob Philoxenos von Mabbug in seinem Buche „De Uno ex trinitate incarnato et passo“, in welchem er ein Zitat aus Ephräms „Buch über die Blutzeugen von Nisibis“ anführt [Bibliotheca Orientalis 1, S. 56], unsere Carmina Nisibena meint, dürfte zweifelhaft sein. In einer fremden Umrahmung haben Teile einzelner Hymnen aus unserer Sammlung in sechs Totengesängen [Nr. 32, 34, 35, 37, 58, 62 der sogenannten Canones necrosimi, 2. syr.-latein. Band der römischen Ausgabe. S. 289 ff.] Aufnahme gefunden. Vielleicht hat ein Späterer sich aus den Carmina Nisibena einen Auszug für liturgische Zwecke gemacht, der dann den Werken Ephräms angefügt wurde und als Originaldichtung gelten konnte, seitdem die Quelle in Vergessenheit geraten war.
S. 243 Inhaltlich kann man zwei Hauptgruppen von Hymnen unterscheiden:
I. Zeitgeschichtliche [1-34], II. dogmatisch-paränetische [35 – 77]. Erstere Gruppe enthält in vier Unterabteilungen die Lieder
1].über die Belagerung und Befreiung von Nisibis [1 – 12],
2] über die Bischöfe von Nisibis [13-21 [22 – 24 fehlen ganz]],
3] über Edessa [25 – 30],
4] über Harran [31 – 34];
die zweite Gruppe handelt
1] über unsern Herrn, über den Tod und den Teufel [35 – 42],
2] über die Auferstehung [43 – 51],
3] über den Teufel und den Tod [52 – 68],
4] hauptsächlich über eschatologische Fragen [69 – 77].
Die Bedeutung dieser Gedichtsammlung liegt wohl in erster Linie darin, daß sie uns in ihren zeitgeschichtlichen Hymnen mancherlei wertvolle Andeutungen über die Lage der Kirche von Nisibis und Edessa aus jener Zeit der beständigen Spannung zwischen dem Römer- und Perserreiche und der inneren Kämpfe der Orthodoxie gegen die Häresie, besonders den Arianismus, hinterlassen hat. All diese schweren Heimsuchungen werden vom Dichter unter dem religiösen Gesichtspunkte gewertet und vielfach unter Benützung einer reichen Bildersprache vorgetragen; dabei muß manches für uns rätselhaft bleiben, was seinen Zeitgenossen, obgleich es nur angedeutet und in Bilder eingekleidet ist, vollauf verständlich war. Trotzdem müssen wir die Carmina Nisibena als kostbare Dokumente eines Augenzeugen jener inneren und äußeren Kämpfe einschätzen, die von den späteren Berichterstattern durch Beifügung legendärer Züge und durch Verwechslungen recht entstellt worden sind.
Bickell hat in seiner Ausgabe wie der kirchengeschichtlichen und archäologischen Bedeutung so auch dem dogmengeschichtlichen Wert der Gedichte je einen Abschnitt gewidmet, auf die hier verwiesen werden muß; S. 244 unter letzterem Gesichtspunkte sei nur auf jene für den Herausgeber persönlich bedeutsam gewordene Stelle im 27. Hymnus aufmerksam gemacht, wo Ephräm sagt: „Du allein und deine Mutter sind über alles schön, keine Makel ist, o Herr, an dir, kein Fehl an deiner Mutter“
Die zweite Hälfte der Sammlung ist von Wichtigkeit für die Kenntnis der dogmatischen, besonders eschatologischen Anschauungen Ephräms. Daneben bietet sie auch vom formellen Standpunkt großes Interesse; die Gedichte sind nämlich zum Teil dramatisch-dialogisch abgefaßt, und sie können als die ältesten Vertreter jener Dichtungsart angesehen werden, die später unter dem Namen „Sugitha“, „Wechsellied“ in der syrischen Poesie so große Verbreitung fand 3
.
Eine lateinische Übersetzung der ganzen Gedichtsammlung fügte Bickell seiner Textausgabe bei; Einzelheiten verbesserte er dann im Conspectus rei Syrorum literariae, Münster 1871, S. 29 f. In der vorigen Auflage der Bibliothek der Kirchenväter hat dann Pius Zingerle im zweiten Ephrämbande [Kempten 1873], S. 153 ff. eine Anzahl der Carmina Nisibena ins Deutsche übertragen. Wie bei seinen übrigen Übersetzungen aus dem Syrischen hat auch hier der verdiente Benediktinerpater bei der Auswahl sich fast ausschließlich von asketischen Gesichtspunkten leiten lassen; darum schaltete er die erste Hälfte, die zeitgeschichtlichen Gedichte, ganz aus, und hat aus der letzten Hälfte die Nummern 35 – 42, 52, 60, 66, 69 übersetzt. 1882 hat Carl Macke in seinem schönen Büchlein „Hymnen aus dem Zweiströmeland“ [Mainz, Kirchheim], eine größere Anzahl der Carmina Nisibena in deutsche Poesie umgegossen, wobei freilich öfters der syrische Text etwas freier wiedergegeben werden mußte; dort finden sich Übersetzungen folgender Lieder: 1, 3, 10, 13, 17 – 21, 33 – 41, 43, 47 – 49, 69, 70, 74 – 77. Außerdem hat Macke in der Monatsschrift „Gottesminne“ 3, 1905 [Alphonsusbuchhandlung, S. 245 Münster] den ganzen Hymnenzyklus von Tod und Teufel [Carmina Nisibena 52-68] in Versen übersetzt. – Einzelne Proben auch in Baumgartners Geschichte der Weltliteratur 1. Bd., S. 187 ff. und bei H. Grimme, Der Strophenbau in den Gedichten Ephräms des Syrers, Freiburg i. d. Schweiz, 1893.
In der nun folgenden Übersetzung soll versucht werden, den syrischen Text möglichst genau wiederzugeben. Freilich macht es der Dichter dem Leser nicht immer leicht, ihm in seinen uns oft fremdartigen Gedankengängen zu folgen; eine absolute Sicherheit über die Richtigkeit der Übersetzung läßt sich darum an manchen Stellen nicht erzielen. Für die Auswahl aus der ganzen Sammlung war der Gedanke maßgebend, jene Gedichte in erster Linie zu berücksichtigen, die dem geschichtlichen Interesse entgegenkommen und bisher nur zum Teil übertragen worden sind; aus diesem Grunde ist die erste Hälfte der Sammlung mehr herangezogen als die letzte, die ja auch von Zingerle und Macke zum größeren Teil schon übersetzt ist; hier wurde auch, soweit vorhanden, die Prosaübersetzung Zingerles benutzt. – Auf Wortspiele, die Ephräm so sehr liebt, und die oft die Gedankenfolge bei ihm beeinflussen, wurde nur dann verwiesen, wenn es das Verständnis unbedingt erforderte.
Ins Französische sind einzelne Teile der Carmina Nisibena übersetzt von C. Ferry [St. Ephrem poète, Paris 1877], dem es indes nur auf die poetische Würdigung ankommt; er hat dabei einfach den lateinischen Text Bickells zugrunde gelegt.
-
Verbesserungen trug er selbst nach in seinem Conspectus rei Syrorum literariae, Münster 1871, S. 28 ff. Ferner lieferten solche: ein Anonymus in Zarncke’s Lit. Centralbl. 1866, Sp. 992 – 94; Abraham Geiger in einer Rezension von Bickells Conspectus in der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 25, S. 278 ff.; Le Hir in den Études religieuses, mars 1868 [wieder abgedruckt in den Études bibliques, Paris 1869, S. 388 – 420 ↩
-
Assemani, Bibliotheca Orientalis, t. 3, p. I S. 3 ff. ↩
-
Vgl. A. Baumstark in der Wissenschaftlichen Beilage zur Germania 1909, S. 131 – 140 und meinen Aufsatz über die liturgische Poesie der Ostsyrer in der 3. Vereinsschrift der Görresgesellschaft 1914, S. 54 ff,, wo auch weitere Angaben. ↩