57.
1. Die menschliche Enthaltsamkeit nun, ich meine die von den Philosophen der Griechen gelehrte, verlangt, daß man mit der Begierde kämpft und ihr nicht zu ihren Taten willig ist; die von uns dagegen gelehrte, daß man überhaupt nicht begehrt; sie hat also nicht das Ziel, daß man sich trotz der vorhandenen Begierde beherrscht, sondern daß man sich der Begierde selbst enthält.
2. Diese Enthaltsamkeit ist aber auf keine andere Weise zu gewinnen als durch die Gnade Gottes.1 Deswegen sagt er: „Bittet, und es wird euch gegeben werden.“2
3. Diese Gnade wurde auch dem Moses, obwohl er mit dem Körper bekleidet war, der viele Bedürfnisse hatte, zuteil, so daß er vierzig Tage lang weder hungerte noch dürstete.3
4. Wie aber gesund zu sein besser ist, als über Gesundheit zu reden, während man krank ist, so ist es auch besser, Licht zu sein, als über das Licht zu reden, und die tatsächliche Enthaltsamkeit besser als die von den Philosophen gelehrte.
5. Denn wo Licht ist, da gibt es keine Finsternis. Wo sich aber die Begierde eingenistet hat, da verkehrt sie doch, auch wenn sie allein ist und wenn sie der körperlichen Tätigkeit nach sich nicht rührt, durch das Darandenken mit dem, was nicht gegenwärtig ist.
