2.
Die Enthaltsamkeit ist daher eine Aufhebung der Sünde, Entfernung der Leidenschaften, Abtödtung des Körpers bis selbst auf die natürlichen Regungen und Begierden, des geistigen Lebens Anfang und eine Anwartschaft auf die ewigen Güter, indem sie in sich den Stachel der sinnlichen Lust vernichtet. Denn die sinnliche Lust ist der große Köder des Bösen, der uns Menschen am meisten zur Sünde S. 94 verführt und jede Seele wie an einer Angel in den Tod zieht. Wer sich daher von ihr nicht verweichlichen und niederbeugen läßt, der entgeht durch die Enthaltsamkeit allen Sünden. Meidet aber Jemand die meisten Sünden, wird aber von einer beherrscht, so ist er nicht enthaltsam, so wie Der nicht gesund ist, der an nur einer körperlichen Krankheit leidet, und der nicht frei ist, welcher von irgend einem, wer es immer sein mag, beherrscht wird. Die übrigen Tugenden, weil im Verborgenen geübt, werden von den Menschen selten wahrgenommen, die Enthaltsamkeit dagegen macht Den, welcher sie besitzt, beim ersten Begegnen kenntlich. Denn wie den Athleten der wohlgenährte Körper und die gesunde Gesichtsfarbe charakterisiren, ebenso zeigt die Magerkeit und Blässe eines Christen, die Folgen der Enthaltsamkeit, daß er in Wahrheit ein Kämpfer der Gebote Christi ist, der durch die Schwäche seines Leibes den Feind besiegt und in den Wettkämpfen der Frömmigkeit seine Kraft bewährt, wie es heißt : „Wann ich schwach bin, dann bin ich stark.“1 Einen wie großen Nutzen gewährt nicht schon der Anblick eines enthaltsamen Menschen, der möglichst wenig von dem Nothwendigen anrührt, gleichsam gezwungen der Natur ihre Dienste leistet und unwillig über die Zeit, die er darauf verwendet, schnell von dem Tische an seine Arbeit geht. Auch glaube ich, daß die Seele eines, der dem Bauche fröhnt, durch keine Rede so ergriffen und zur Änderung seines Sinnes bewogen wird, als durch die Zusammenkunft mit einem Enthaltsamen. Und das heißt zur Ehre Gottes essen und trinken, wenn auch bei Tische unsere guten Werke leuchten, um unsern Vater zu preisen, der im Himmel ist.
II. Kor. 12, 10. ↩
