Einleitung und Inhalt.
Der crasse Pelagianismus war wohl schon überwunden; aber der Irrthum, der die menschliche Selbstthätigkeit auf Kosten der Gnade erhebt, erneuerte sich bald in gemilderter Gestalt und in beschränkter Weise. Die kirchlichen Entscheidungen hatten noch manche tiefer liegende Fragen besonders über das nähere Verhältniß von Gnaden und Freiheit, offen gelassen und fielen der kirchlichen Wissenschaft anheim, in der vor Allen Augustinus thätig war. Schon frühzeitig nahmen Einzelne Anstoß an manchen Ausführungen desselben; so hatten um 426 und 427 einige Mönche des Klosters zu Adrumet gegen seinen ihnen bekannt gewordenen Brief an den römischen Priester (nachherigen Papst) Sixtus1 Anstand erhoben, weil sie meinten, es werde darin die menschliche Freiheit und Gottes gerechtes Gericht aufgehoben. Doch scheinen sich diese durch die hierauf gegebenen Erklärungen des hl. Augustinus beruhigt zu haben. Bedeutender und hartnäckiger war der Widerspruch, welchen Augustin's Schriften im südlichen Gallien, besonders in Marseille fanden; fromme und gelehrte Männer, Priester und Mönche, an ihrer Spitze Johann Cassianus, Abt des Klosters von St. Victor in Marseille, glaubten, die menschliche Freiheit sei durch Augustinus verkümmert, und wenigstens der fromme Affect, das Ringen des Gott um Beistand anflehenden Menschen, sei nicht der Gnade, sondern der Freiheit beizulegen, gleichwie auch diese nach Empfang der Gnade sich in ihr be- S. 476 wahre und erhalte, und suchten einen Mittelweg zwischen den Lehren des Pelagius und Augustinus unter Festhaltung der gegen Ersteren erlassenen kirchlichen Entscheidungen zu gewinnen. Von diesem Widerstande wurde Augustinus durch zwei seiner dortigen Verehrer Prosper, und Hilarius, von Jedem in einem besonderen Briefe, in Kenntniß gesetzt; er antwortete in zwei Schriften v. J. 429, in denen er die Partei des Cassianus zu gewinnen und zu überzeugen suchte. Allein die Verdächtigungen und Anfeindungen dauerten auch nach dem Tode des hl. Augustinus (28. Aug. 430) fort. Deßhalb begab sich Prosper mit Hilarius nach Rom zum Papste Cölestinus, um seinen Beistand gegen die neuerungssüchtigen Lästerer Augustin's und ihre Irrthümer anzurufen. Dieß die Veranlassung zu dem hier folgenden Schreiben des Papstes an die Bischöfe Galliens, worin er ihnen strenge Vorwürfe macht über ihre Nachlässigkeit in der Unterdrückung des von ihren Priestern verursachten Ärgernisses, über ihre Saumseligkeit im Predigtamte, welches sie persönlich, nicht durch Priester allein ausüben sollen, und schließlich die Glaubensreinheit und Wissenschaft des hl. Augustinus seinen Verleumdern gegenüber vertheidigt.
Dem Schreiben des Papstes sind unter dem Titel: „Aussprüche früherer Bischöfe des apostolischen Stuhles über die Gnade Gottes" neun Artikel über die Gnadenlehre angehängt. So wenig der genannte Titel dem Inhalte entspricht, da die 3 letzten Artikel nicht päpstliche Aussprüche enthalten, ebenso sicher ist es, daß die Artikel selbst nicht vom P. Cölestinus zusammengestellt, ja nicht einmal von ihm dem Briefe beigefügt wurden. Denn obwohl dieselben seit dem 6. Jahrhundert nach dem Beispiele des Dionysius Exiguus, welcher unseren Brief mit den Artikeln in seine Decretalen-Sammlung unter 13 Capiteln 2 S. 477 aufnahm, in allen kirchenrechtlichen Sammlungen stets untrennbarer Bestandtheil des Papstbriefes aufgeführt werden. so erkannten und bewiesen doch vom 16. Jahrhundert an die bedeutendsten Kritiker au die triftigsten Gründe hin das Gegentheil; diese wurden von Coustant3 und den Ballerini4 noch weiter ausgeführt, so daß es nunmehr feststeht, daß die Artikel dem Papste Cölestinus ganz fremd sind; als ziemlich wahrscheinlich aber gilt, daß sie von Prosper in Rom gesammelt und zugleich mit dem päpstlichen Schreiben nach Gallien gebracht, wegen der Ähnlichkeit der behandelten Materie mit diesem in Verbindung blieben, vielleicht auch unter Einem im päpstlichen Archive5 aufbewahrt und deßhalb von Dionysius Exiguus als Beilage des Briefes angesehen und publicirt wurden. S. 478
Es ist der 14. Brief des hl. Augustinus in der Mauriner Ausgabe und wird unten bei den Briefen des P. Sixtus folgen. ↩
Von welchen zwei auf den Brief von P. Cölestinus entfallen, die übrigen 11 auf die 9 Artikel. ↩
P. 1177 sqq. ↩
Opp. S. Leon. M. t. II. p. 719 sqq. wo die Dissertationen Quesnell’s über diesen Gegenstand vorausgeschickt sind. Von den dort angeführten Gründen hier nur zwei: Der Schreiber der Artikel spricht nirgends als Inhaber des apostolischen Stuhles, nennt keinen der angeführten Päpste seinen Vorgänger; in dem Briefe selbst, der mit der Grußformel vollständig abschließt, ist keine Rede davon, daß eine Anlage mit übersendet wurde, was alles undenkbar wäre, wenn Cölestinus selbst die Artikel zusammengestellt oder nur seinem Briefe hätte anschließen wollen. ↩
Daß sie überhaupt im päpstlichen Archive lagen, geht aus dem 124. (nach der Ausgabe Thiel’s) Briefe des P. Hormisdas an den in Constantinopel weilenden africanischen Bischof Possessor v. J. 520 hervor, in welchem (n. 5.) sie als die Lehre der römischen d. i. katholischen Kirche über die Freiheit und die Gnade enthaltend bezeichnet, als officiell bestätigt werden. Demnach ist es kein wesentlicher, sondern nur ein historischer Mißgriff, wenn auch in neuen Kirchen- und Dogmengeschichten (Stollberg, Ritter, Ginzel, Schwane, Zobl, auch Hergenröther) die Worte der Artikel als päpstliche Aussprüche angerufen werden; sie nemlich machte zwar noch nicht Cölestinus, aber Hormisdas zu solchen. ↩
