3. Kapitel
5. Die historische Darstellung ist umfassend, wenn wir die Einführung jeweils mit der Schriftstelle »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde« 1 beginnen und sie bis zur Kirche in dieser Zeit weiterführen. Das will aber nicht heißen, daß wir den ganzen Pentateuch, alle Bücher der Richter, der Könige, des Esra,2 das gesamte Evangelium und die Apostelgeschichte aus dem Gedächtnis dem Wortlaut nach vortragen, falls wir diese Texte auswendig gelernt haben, noch auch, daß wir andernfalls all das, was in diesen Büchern enthalten ist, mit eigenen Worten nacherzählen und vor unseren Hörern ausbreiten. Dazu reicht weder die Zeit, noch liegt eine S. 18 Notwendigkeit dafür vor. Wir wollen vielmehr den ganzen Inhalt kurz und exemplarisch zusammenfassen, in der Form, daß wir einige bemerkenswerte Ereignisse herausgreifen, welche beim Hörer besonderen Anklang finden und die an den Wendepunkten der Geschichte liegen.3 Bei diesem Vorgehen sind wir nicht gezwungen, alles gleichsam nur in der Hülle vorzuzeigen und es dem Blick sofort wieder zu entziehen, wir können vielmehr beim einzelnen etwas verweilen, es gleichsam aus der Verschnürung lösen, es ausbreiten und den Zuhörern zum Betrachten und Bestaunen anbieten.4 Den Rest aber können wir im Vorbeigehen erwähnen und es in den Gesamtzusammenhang einfügen. Wenn wir so die übrigen Themen in den Hintergrund schieben, kommen jene Themen besser zur Geltung, die wir dem Hörer besonders ans Herz legen wollen. Er kommt nicht bereits ermüdet bei ihnen an, wo wir ihn doch mit der Art unserer Darstellung in Spannung halten wollen; seine Gedankenwelt gerät nicht in Verwirrung, wo wir ihm doch mit der Art unserer Lehre klares Wissen geben sollen.
6. Bei all dem müssen wir freilich nicht nur für uns selber den Endzweck des Gebotes im Auge behalten, welches lautet: »Liebe aus reinem Herzen, aus gutem Gewissen und aus ungeheucheltem Glauben«,5 worauf wir alle unsere Worte auszurichten haben, sondern wir müssen auch den Blick des Zuhörers, den wir mit unserem Vortrag unterrichten, zielbewußt darauf hinlenken. Vor der Ankunft des Herrn ist nämlich alles, was wir in den Heiligen Schriften lesen, nur zu dem Zweck geschrieben worden, um uns mit seiner Ankunft vertraut zu machen und uns die zukünftige Kirche, das Volk S. 20 Gottes unter den Völkern, seinen Leib,6 sinnbildhaft anzuzeigen. Miteingeschlossen und mitgezählt in dieser Kirche sind auch alle Heiligen, die noch vor der Ankunft des Herrn in dieser Welt lebten, die ebenso fest an sein bevorstehendes Kommen glaubten, wie wir daran glauben, daß er gekommen ist.
So etwa streckte Jakob bei seiner Geburt zuerst die Hand aus dem Mutterschoß, mit der er auch noch den Fuß des vor ihm geborenen Bruders festhielt,7 und dann folgte natürlich der Kopf und zuletzt zwangsläufig die übrigen Glieder – und dennoch übertrifft das Haupt nicht nur die Glieder, die ihm bei der Geburt folgten, sondern auch die Hand, die ihm voranging, an Ansehen und Bedeutung, und es nimmt den ersten Rang ein, zwar nicht nach dem Zeitpunkt des Erscheinens, wohl aber nach der natürlichen Rangordnung: Genauso hat nun auch der Herr Jesus Christus, bevor er im Fleisch erschien und gewissermaßen aus dem Schoß seiner Verborgenheit den Menschen vor Augen trat, »als Mensch Mittler zwischen Gott und den Menschen«,8 »als Gott über allen stehend, hochgelobt in alle Ewigkeit«,9 zwar in Gestalt der heiligen Patriarchen und Propheten gleichsam einen Teil seines Körpers vorausgeschickt und mit ihrer Hilfe, wie mit einer Hand, seine kommende Geburt angekündigt und zugleich das ihm hochmütig vorangehende Volk mit den Fesseln des Gesetzes, gleichsam wie mit den fünf Fingern, in Zügel gehalten (auch sein bevorstehendes Kommen ließ er ja durch fünf Zeitabschnitte hindurch unablässig ankündigen und prophezeien; passend dazu hat auch der Mann, welcher das Gesetz überbrachte,10 fünf Bücher verfaßt; und jene stolzen, fleischlich gesinnten Menschen, die »ihre eigene Gerechtigkeit einzurichten versuchten«,11 empfingen nicht S. 21 reichen Segen aus der offenen Hand Christi, sondern wurden mit fest verschlossener Hand zurückgehalten, und »ihre Füße wurden gefesselt, und sie stürzten nieder, wir aber haben uns erhoben und stehen aufrecht«),12 ebenso also hat unser Herr Christus, wie ich sagte, gleichsam einen Teil seines Körpers vorausgeschickt in Gestalt der Heiligen, die ihm dem Zeitpunkt der Geburt nach vorausgingen - und dennoch »ist er selber das Haupt des Leibes, der Kirche«,13 und alle jene Heiligen waren verbunden mit dem einen Körper, dessen Haupt er ist, indem sie an ihn glaubten, den sie im voraus verkündigten. Indem sie vorausgingen, haben sie sich nicht losgerissen, sondern sie behielten vielmehr ihre Verbindung durch ihren Gehorsam. Auch wenn die Hand vom Haupt vorausgeschickt werden kann, bleibt doch die Verbindung unter der Führung des Hauptes.
So ist »alles, was dereinst geschrieben wurde, zu unserer Belehrung geschrieben«,14 es stellt für uns ein Modell dar, »und es widerfuhr ihnen als Modell; es wurde aber für uns niedergeschrieben, für die das Ende der Zeiten gekommen ist.« 15
Gen 1,1. ↩
Damit ist Esra/Nehemia (damals Esra B) und das heute zu den Apokryphen gezählte 3. Esrabuch (damals Esra A) gemeint. Vgl. Μ. Saebo, art. Esra/Esraschriften: TRE 10 (1982) 374-386. ↩
Die articuli (Wendepunkte/Einschnitte) im Geschichtsablauf geben das Strukturelement für die historische Darstellung. ↩
Das Bild verweist auf die Papyrusrolle, die verschnürt in einer Hülle aufbewahrt wird. ↩
1 Tim 1,5. ↩
Vgl. Kol 1,18.. ↩
Vgl. Gen 25,25 ↩
1 Tim 2,5. ↩
Röm 9,5 ↩
Vgl. Joh 1,17 ↩
Röm 10,3. ↩
Ps 19,9. ↩
Kol 1,18. ↩
Röm 15,4. ↩
1 Kor 10,11. ↩
