Einleitung
Trotz der langatmigen Schriftenverzeichnisse durfte vorliegender Brief wegen seiner Bedeutung in der Sammlung nicht fehlen. Eigenartig ist schon sein Schicksal; denn die bisherigen Ausgaben boten ihn nur in verstümmelter Gestalt. Erst Hilberg hat den Brief vollständig bringen können, nachdem neuere Forschungen ergeben haben, daß die Varro- und Origenesliste, welche sich in verschiedenen Handschriften zu Origenes vorfanden, Bestandteile des vorliegenden Briefes waren. Die Verzeichnisse selbst waren allerdings schon früher veröffentlicht worden. 1
Seiner Wirkung nach liegt das Interesse des Briefes auf literargeschichtlichem Gebiete. Die Schriftverzeichnisse geben Aufschluß über die Werke zweier Autoren, die den Philologen und Kirchenhistoriker besonders angehen und die zum großen Teile in Verlust geraten sind. 2 Der Verfasser aber wollte ein apologetisches S. b228 Dokument im Dienste der Selbstverteidigung veröffentlichen. Dem römischen Salonklerus werden erneut seine Fehler mit ätzender Ironie vorgeworfen. 3 Ihm ist der Sinn für Wohlleben eigen, genau so wie die Abneigung gegen wissenschaftliches Studium. Zur Entschuldigung führte man an, daß Gleichgültigkeit gegen Wissenschaft ein Element der Heiligkeit sei; denn man sei ja Schüler und Nachfolger ungebildeter Fischer. 4 Hieronymus erbringt nun an der literarischen Fruchtbarkeit des Origenes den Nachweis, daß Christentum und Wissenschaft sich nicht ausschließen, ja daß der Christ Origenes noch mehr geleistet hat als die beiden heidnischen Vielschreiber Didymus und Varro. Trotzdem war sein Schicksal Verfolgung und Verurteilung durch seinen Bischof. Damit ist die Parallele angebahnt zwischen Hieronymus und dem großen Alexandriner. Auch er sieht sich bereits als Opfer seiner eifrigen wissenschaftlichen Betätigung.
Ist der Lobredner des Origenes in diesem Briefe, der sich nur noch dort übertrifft, wo er in Anlehnung an den blinden Didymus Origenes den ersten Lehrmeister der Kirchen nach den Aposteln nennt, 5 der gleiche, der etwa 15 Jahre später zu einem Vorkämpfer im Origenistenstreite wird? Es besteht kein Zweifel, Hieronymus war im Anfange voll und ganz von Origenes begeistert. Wenn er später ablehnt, je Origenist gewesen zu sein, und auf gegensätzliche Bemerkungen in seinen Kommentaren hinweist, so hat er zum mindesten in Selbsttäuschung und im Eifer des Kampfes seine Begeisterung für den Alexandriner unterschätzt, die Gegensätze aber, die nur in wenigen Fällen grundsätzlicher Natur waren, überschätzt. Man kann unbedenklich sagen, daß Rufin dort, wo er Hieronymus in S. b229 der ersten Periode seiner literarischen Tätigkeit als Anhänger des Origenes festlegt, durchaus im Recht ist. 6
An sich muß man Grützmacher zustimmen, wenn er für die Datierung des Briefes die Grenzen des römischen Aufenthaltes ansetzt, da eine genauere Angabe fehlt. 7 Aus dem Charakter des Briefes ergibt sich aber, daß er nur in der Spätzeit des römischen Aufenthaltes, wahrscheinlich sogar erst nach dem Tode des Papstes Damasus, also frühestens im Dezember 384, geschrieben sein kann. 8
Vgl. zur Textgeschichte B. II 97 f; Gr. I 248; F. Prat in Dictionnaire de la Bible IV 2, 1881. Paris 1912; Schanz, Gesch. der röm. Literatur I4 555 f., München 1927. Auf letzteres Werk sei auch verwiesen für alle Bemerkungen zur Varroliste. ↩
Von Varro blieben außer kleinen Bruchstücken nur erhalten „De lingua latina“ (V—X) und „Rerum rusticarum“ (II f.). Von den Schriften des Origenes ist der größte Teil der Scholien, Homilien und Kommentare nicht auf uns gekommen (vgl. B. II 121. 124. 130—132. 136. 138. 140—150). Ohne die beiden Verzeichnisse wäre eine Anzahl von Schriften beider Autoren uns auch dem Namen nach unbekannt. In beiden Listen findet sich eine Anzahl von Versehen, die teils Hieronymus, teils der textlichen Überlieferung zur Last fallen. ↩
Ep. 33, 3. 6. ↩
Vgl. z.B. ep. 27, 1 ad Marcellam (s. S. 96). ↩
Vgl. praef. in librum de nominibus hebraicis (M PL XXIII 816); praef. in transl. hom. in Jer. et Ezech. (M PL XXV 611). ↩
In Hier. I 21 f.; II 13 ff. (M PL XXI 559 f. 596 ff.). ↩
Gr. I 57. ↩
Vgl. Cav. II 26. Pronbergers (30 f.) Versuch, den Brief in die Jahre 390/91 zu verlegen, ist abzulehnen. ↩
