6.
Die geradlinige Fortbildung der alten Liturgien Jerusalems und Antiocheias verraten die griechischen Liturgien, welche Ps. Dionysius Areopagita überliefert1 und jene, die unter dem Namen des Herrnbruders Jakobus bekannt ist.
Nach dem Urteil der Forscher H. Koch und Jos. Stiglmayr dürfte der Ps. Areopagita um die Wende des 5. zum 6. Jahrhundert (c. 485—515) geschrieben haben. Das Schwanken der Ansichten, ob wir in seiner Meßerklärung einen ägyptischen oder syrischen Ritus vor uns haben, hat sich durch Vergleich mit andern Dokumenten dahin konsolidiert, daß es syrische, und zwar westsyrische Liturgie ist. In seiner „Kirchlichen Hierarchie“, welche P. Stiglmayr in dieser „Kirchenväterbibliothek“ in Übersetzung vorgelegt hat, ist c. 2 und 3 der Beschreibung der Liturgie gewidmet. Es kann S. 10 hier nicht unsere Aufgabe sein, den Ritus vollständig aufzuzählen; wir wollen nur charakteristische Momente der Entwicklungsstufe namhaft machen, welche das ausgehende fünfte Jahrhundert beherrschten. Zur Enarxis gehört bereits eine Beräucherung des ganzen Raumes durch den Bischof, die Anfänge der μικρὰ εἴσοδος [mikra eisodos]. Zu Beginn der Gläubigenmesse, wenn die Diakonen die Türen geschlossen haben, wird das Symbolum von der ganzen Versammlung rezitiert, worauf die Gabendarbringung folgt und die Erteilung des Friedenskusses. Die Verlesung der Diptychen, das Händewaschen der Liturgen schließt sich an; dann beginnt der Hierarche mit dem Dankgebet. Der übrige Teil des Gottesdienstes unterscheidet sich nicht wesentlich von den andern syrischen Quellen, die wir bereits verhört haben. Der Ritus des Ps. Dionysius scheint die Rezitation des „Vater unsers“ noch nicht gekannt zu haben.
Vergleichen wir die von Ps. Dionysius gegebene Beschreibung des Ritus mit den Aussagen syrischer Schriftsteller2, wie des Hesychius, Presbyter von Jerusalem († 438), des Cyrill von Skythopolis (c. 555), des Anastasius Sinaita (c. 600), des Johannes von Damaskus (c. 685—765), des Johannes Moschus († 620), welche F. E. Brightman sorgfältig zusammengestellt hat, so sehen wir, daß er manche Gebete und Gesänge, welche Johannes von Damaskus zu Beginn des achten Jahrhunderts erwähnt, noch nicht kennt; so z. B. das Trisagion ἅγιος ὁ θεὸς καὶ πατὴρ, ἅγιος ἰσχυρός [hagios ho theos kai patēr, hagios ischyros] in der Enarxis; daß ihm dagegen Einrichtungen geläufig sind, deren Einführung dem fünften Jahrhundert noch angehörte, wie die Rezitation des Glaubensbekenntnisses, welches nach der Kirchengeschichte des Theodoros Anagnostes (II 48) Petrus der Walker, Patriarch von Antiocheia (476—488), vorgeschrieben haben soll. Auch die Reihenfolge — Friedenskuß, Diptychen, Gabendarbringung — findet durch etwas spätere Aussagen ihre Bestätigung. Die Rezitation des „Vater unsers“ vor dem Brechungsakte bezeugt um 600 Anastasius Sinaita.
Alle diese jüngern und älteren Bestandteile bringt die syrische Normalliturgie des ausgehenden sechsten Jahrhunderts zum Ausdruck, welche die Handschriften S. 11 Jakobus dem Herrnbruder zuschreiben. Als solche wird sie zum erstenmal ausdrücklich im 32. Kanon der TrulIanischen Synode 692 genannt. Es ist derselbe Prozeß, den wir bei allen orientalischen Liturgien verfolgen können: Die Liturgie hatte sich organisch aus einem gewissen Kern heraus entwickelt und erweitert, sodaß wir bald da, bald dort direkte Berührungen mit früheren Zitaten feststellen können. Dies scheint z. B. auch mit einer Stelle bei Hieronymus zuzutreffen (adv. Pelag. II 23), welche in den Diptychen der Jakobsliturgie sich wiederfindet. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß auch die ganze Liturgie bereits zu dessen Zeit vollentwickelt war oder den Namen des Herrnbruders führte. Beides scheint übrigens in der Mitte des sechsten Jahrhunderts der Fall gewesen zu sein, da die Jakobiten, die syrischen Monophysiten, welche sich um diese Zeit trennten, sie fast unverändert erhielten.
(26.) s. O. Bardenhewer, Patrologie 3. Aufl. 1910, 462—467. Jos. Stiglmayr, Kirchenväterbibliothek II. Bd. 1911, XXI u. 117—145; derselbe, Eine syrische Liturgie als Vorlage des Ps. Areopagiten. Zeitschr. für kath. Theologie 1909, 383 ff. Brightman, Liturgies Eastern and Western, appendix E S. 487—490. ↩
(27.) Brightman app. D S. 481—487. ↩
