Dritter Artikel. Der sinnliche Teil kann Sitz der Sünde sein.
a) Dem scheint nicht so. Denn: I. Die Sünde ist dem Menschen eigen, der da aus seinen Thätigkeiten Lob oder Tadel erntet. Der sinnliche Teil aber ist für Mensch und Tier gemeinsam. II. „Niemand sündigt darin, wo er es nicht vermeiden kann“ nach Augustin. (3. de lib. arbitr. 18.) Daß der Akt des sinnlichen Teiles aber ungeordnet sei, kann der Mensch nicht vermeiden; „denn die Sinnlichkeit ist stetes Verderbtsein, solange wir in diesem sterblichen Leben sind; weshalb sie durch die Schlange bezeichnet wird.“ (Aug. 12. de Trin. 12.) III. „Das scheinen wir selber zu thun, was wir aus Überlegung thun.“ (9 Ethic. 8.) Die Bewegung der Sinnlichkeit aber geht der Überlegung voraus. Also wird sie uns nicht angerechnet. Auf der anderen Seite heißt es Röm. 7.: „Nicht was ich will, das Gute, thue ich; sondern was ich hasse, das Übel, das thue ich;“ was Augustin (3. contr. Julian. 26.) von der Begierlichkeit erklärt. Also ist im Akte der Sinnlichkeit ein Übel d. i. Sünde.
b) Ich antworte, in jedem Vermögen könne der Sitz von Sünde sein, welches das Princip von freiwilliger und regelloser Thätigkeit bilde, was ja eben der Charakter der Sünde ist. Der Akt der Sinnlichkeit aber kann freiwillig sein, inwieweit das sinnliche Begehren von Natur aus geeignet ist, von seiten des Willens her in Thätigkeit gesetzt zu werden. Also kann der sinnliche Teil Sitz von Sünden sein.
c) I. In uns ragen einige sinnliche Kräfte dadurch hervor, daß sie mit der Vernunft verbunden sind; wie wir vor den Tieren im sinnlichen Teile die Denk- oder Vergleichungskraft und die dementsprechende Erinnerung voraus haben. (Vgl. I. Kap. 78, Art. 4.) Und so hat auch das sinnliche Begehren in uns das voraus, daß es der Vernunft untersteht; rücksichtlich dessen es Princip von freiwilliger Thätigkeit und demgemäß Subjekt der Sünde sein kann. II. Die stete Verderbtheit der Sinnlichkeit ist zu verstehen mit Rücksicht auf den „fomes“, den Stachel des Fleisches, der in diesem Leben nie genommen wird. Denn die Erbsünde vergeht mit Rücksicht auf die Schuld nicht aber mit Rücksicht auf die thatsächliche Wirksamkeit. Die Verderbtheit des Stachels des Fleisches aber hindert es nicht, daß der Mensch jede einzelne ungeordnete Bewegung der Sinnlichkeit unterdrücken kann mit dem vernünftigen Willen, sobald er sie vorausfühlt; denn er kann seinen Gedanken von ihr abwenden. Während der Mensch jedoch seinen Gedanken zu etwas Anderem hinlenkt, kann auch bezüglich dessen eine ungeregelte Bewegung erstehen; wie, wenn jemand seinen Gedanken abwendet von fleischlichem Ergötzen, weil er die Bewegung der Begierlichkeit vermeiden will, und zum Erforschen der Wissenschaft hinwendet, bisweilen die ungeregelte Bewegung der Eitelkeit unvorhergesehen ersteht. Alle dergleichen ungeregelte Bewegungen also kann der Mensch nicht vermeiden wegen der vorbesagten Verderbtheit. Es genügt jedoch dafür, daß die Sünde etwas Freiwilliges ist, daß der Mensch jede einzelne solcher ungeregelten Bewegungen vermeiden kann. III. Was der Mensch ohne vernünftige Überlegung thut, das thut er nicht ganz vollkommen selber; denn nichts wirkt darin jenes Moment, welches die leitende Stelle im Menschen hat, so daß also die betreffende Thätigkeit keine eigentlich menschliche ist. Also ist da weder Tugend noch Sünde; sondern etwas durchaus Unvollendetes mit Bezug darauf. Eine solche Bewegung der Sinnlichkeit also, welche der Vernunft zuvorkommt, ist eine läßliche Sünde; was da ist etwas Unvollendetes im Bereiche der Sünde.
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