Dritter Artikel. Zur Rechtfertigung des Sünders gehört die freie Willensbewegung.
a) Dagegen spricht: I. Durch die Taufe werden die Kinder gerechtfertigt ohne freie Willensbewegung; und manchmal ist dies auch bei den Erwachsenen der Fall. Denn Augustinus schreibt (4. Conf. 4.): „AIs einer seiner Freunde am Fieber krank daniederlag, war er lange Zeit ohne Bewußtsein in Todesschweiß; er wurde, da man an seinem Aufkommen verzweifelte, getauft und ward so, ohne daß er davon wußte, wiedergeboren;“ erhielt also die rechtfertigende Gnade. Gottes Macht aber ist an die Sakramente nicht gebunden. Also kann Er, auch ohne Sakramente, jemanden rechtfertigen ohne dessen freie Willensbewegung. II. Salomo erhielt die Gabe der Weisheit im Schlafe, nach 3. Kön. 3. und 2. Paral. 1. Also kann der Mensch ebenso, ohne freie Willensbewegung, die Gabe der Rechtfertigung erhalten. III. Kraft der nämlichen Ursache wird die Gnade im Sein bewahrt, durch welche sie gegeben wird. Denn Augustin sagt (8. sup. Gen. ad litt. 10.): „Der Mensch muß sich so zu Gott bekehren, daß er immer vor Gott gerecht sei.“ Ohne freie Willensbewegung aber wird die Gnade erhalten im Menschen. Also wird sie auch ohne eine solche gegeben. Auf der anderen Seite heißt es Joh. 6.: „Jeder, welcher gehört hat und gelernt hat vom Vater, kommt zu mir.“ Lernen aber ist nicht ohne freie Willensbewegung. Also niemand kommt zur Gnade der Rechtfertigung ohne freie Willensbewegung.
b) Ich antworte, die Rechtfertigung des Sünders komme vom Anstoße Gottes, der zur Gerechtigkeit hinbewegt. Gott aber setzt einen jeden in Thätigkeit nach der Weise der Natur desselben. Also rechtfertigt Er den Menschen nach der Weise der menschlichen Natur, zu der es gehört, freien Willen zu haben. In jenem also, der den Gebrauch seines freien Willens hat, geschieht der Anstoß zur Gerechtigkeit von seiten Gottes nicht ohne freie menschliche Willensbewegung; vielmehr wird die Gabe der rechtfertigenden Gnade so eingegossen, daß Gott damit zugleich auch den freien Willen bewegt, damit der Mensch das Geschenk der Gnade annehme.
c) I. Kinder sind einer freien Willensbewegung nicht fähig; sie werden also allein dadurch zur Gerechtigkeit hinbewegt, daß ihre Seele vollendet wird. Dies geschieht aber nicht ohne Sakrament. Denn wie die Erbsünde, von der sie gerechtfertigt werden, nicht kraft ihres eigenen Willens in sie trat, sondern kraft fleischlicher Zeugung; so wird auch die Gnade Christi in sie abgeleitet durch geistige Wiedererzeugung. Dasselbe gilt von Wahnsinnigen und Rasenden, die den Gebrauch des freien Willens niemals gehabt haben. Wer aber den Gebrauch des freien Willens besaß und nachher selben verloren hat, der gelangt nicht durch die äußerlich angewendete Taufe zur Gnade der Rechtfertigung, er müßte denn vorher die Taufe oder entsprechend ein anderes Sakrament in der Begierde gehabt haben; was den Gebrauch des freien Willens einschließt. Und so ward jener wiedergeboren, von dem Augustin spricht; denn er hat vorher nach der Taufe sich gesehnt. II. Nicht im Schlafe hat Salomo die Gabe der Weisheit verdient oder empfangen; sondern es wurde ihm im Schlafe verkündet, daß wegen seiner vorhergehenden Sehnsucht ihm von Gott die Weisheit eingegossen würde; deshalb wird in seiner Person Sap. 7. gesagt: „Ich sehnte mich danach; und es ist mir das Verständnis gegeben worden.“ Oder es war der betreffende Schlaf eine prophetische Exstase. So wird Num. 12. gesagt: „Ist unter euch ein Prophet; im (geistigen) Gesichte werde ich ihm erscheinen oder vermittelst eines Traumbildes will ich zu ihm sprechen;“ in welchem Falle der betreffende den Gebrauch des freien Willens hat. Dabei waltet nicht der nämliche Grund ob bei der Gabe der Weisheit und bei der Rechtfertigung. Denn letztere richtet den Menschen auf das Gute, den Gegenstand des Willens; und sonach wird der Mensch zu selbem hin bewegt durch die freie Willensbewegung. Die Weisheit aber vollendet die Vernunft. Also ohne freie Willensbewegung kann die Vernunft durch die Gabe der Weisheit erleuchtet werden. So wird Manches dem Menschen im Schlafe geoffenbart, nach Job 33.: „Wenn der Schlaf die Menschen befällt und sie eingeschlummert sind auf ihrer Lagerstätte; dann öffnet Er die Ohren der Menschen und unterrichtend bildet Er sie durch heilsame Lehre.“ III. Beim Eingießen der Gnade der Rechtfertigung vollzieht sich eine gewisse Änderung der menschlichen Seele; und deshalb wird die der menschlichen Seele eigene Bewegung erfordert, damit die Seele gemäß ihrer Seinsweise in Thätigkeit sei. Dagegen ist das Bewahren der Gnade ohne Änderung und somit wird nur die Fortsetzung des göttlichen Einflusses erfordert.
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