Zweiter Artikel. Der Nachlaß der Sünde, also die Rechtfertigung, erfordert das Eingießen der Gnade.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Es kann jemand den einen Gegensatz verlassen, ohne zu dem anderen zu gelangen; wenn etwas dazwischen liegt. Zwischen dem Stande der Schuld und dem der Sünde aber liegt der Stand der Unschuld, wo der Mensch weder Schuld noch Gnade hat. Also der Nachlaß der Sünde bedingt nicht, daß Gnade mitgeteilt werde. II. Der Nachlaß der Sünde besteht in der bloßen Nichtanrechnung derselben von seiten Gottes, nach Ps. 31.: „Selig der Mann, dem der Herr nicht angerechnet hat die Sünde.“ Das Eingießen der Gnade jedoch verursacht etwas, was in uns bleibt. Also ist Letzteres nicht dazu erforder lich, daß die Sünde nachgelassen werde. III. Keiner ist entgegengesetzten Sünden unterworfen; wie z. B. niemand zugleich geizig und verschwenderisch ist. Es kann also jemand von der Sünde des Geizes, den er früher hatte, befreit werden und der Verschwendung nun unterliegen. Und so wird eine Sünde nachgelassen ohne den Beistand der Gnade. Auf der anderen Seite steht geschrieben (Röm. 3.): „Gerechtfertigt unverdientermaßen durch seine Gnade.“
b) Ich antworte, durch die Sünde habe der Mensch Gott beleidigt. Eine Beleidigung wird aber nicht nachgelassen, ohne daß die Seele des Beleidigten mit dem Beleidiger versöhnt sei. Die Sünde also wird nachgelassen dadurch, daß wir Frieden haben mit Gott. Ein solcher Friede aber besteht in der Liebe, vermittelst deren Gott uns liebt. Nun ist zwar die Liebe Gottes in sich betrachtet, von seiten des göttlichen Seins, ewig und unveränderlich; ihre Wirkung aber, die sie uns einprägt, wird bisweilen unterbrochen, soweit wir von ihr abfallen, und bisweilen erscheint sie wieder. Die Wirkung nun der göttlichen Liebe in uns, welche durch die Sünde hinweggenommen wird, ist die Gnade, welche würdig macht des ewigen Lebens, von dem die Sünde ausschließt. Also könnte der Nachlaß der Sünde gar nicht aufgefaßt werden, wenn nicht das Eingießen der Gnade damit verbunden wäre.
c) I. Daß jemandem die Beleidigung verziehen sei, dazu wird mehr erfordert als daß der Beleidigte nicht gehaßt werde. Denn ein Mensch kann wohl den anderen weder lieben noch hassen; daß er aber ihm die Beleidigung nachläßt, das geschieht nicht, ohne daß ein besonderes Wohlwollen dazwischentritt. Das Wohlwollen Gottes dem Menschen gegenüber wird aber wiederhergestellt durch das Geschenk der Gnade. Deshalb kann der Mensch, ehe er gesündigt hat, wohl sein ohne Gnade und ohne Schuld; nach der Sünde aber kann er nicht ohne Schuld sein, wenn er ohne Gnade ist. II. Wie die Liebe Gottes nicht besteht, ohne eine gewisse Wirkung der Gnade einzuschließen; so besteht es auch nicht, daß Gott dem Menschen die Sünde nicht anrechnet, ohne daß eine Wirkung Gottes in der Seele wäre, auf Grund deren die Sünde nicht angerechnet wird. Denn daß jemandem die Sünde nicht angerechnet werde, das geht aus einer gewissen Liebe hervor. III. Augustin (1. de nupt. et conc. 26.) sagt: „Wenn aufhören zu sündigen dasselbe wäre wie keine Sünde haben, so würde genügen, daß die Schrift ermahnte: Sohn, du hast gesündigt, füge keine Sünde mehr hinzu. Das genügt aber nicht, sondern es wird weiter gesagt: Und für die vergangenen Sünden bitte um Verzeihung, daß sie dir nachgelassen werden.“ Denn die Sünde geht als Akt vorüber, bleibt aber als Schuld. Geht also jemand zum Akte der gegenteiligen Sünde über, so bleibt die Schuld der verflossenen Sünde; und er hat somit die Schuld beider Sünden. Denn von seiten der Abwendung von Gott sind die Sünden einander nicht entgegengesetzt.
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