Dritter Artikel. Die heilige Liebe ist eine Tugend.
a) Dagegen spricht: I. Die Liebe ist Freundschaft; die Freundschaft aber wird (8 Ethic. 1.) von den Philosophen zu keiner Art Tugend gezählt. II. Die Tugend ist das Letzte in der Vollendung des betreffenden Vermögens. Das ist aber nicht die Liebe, sondern die Freude und der Friede. III. Jede Tugend ist ein bloßer Zustand, also eine bloße Eigenschaft. Dies ist aber nicht die heilige Liebe, die da höher steht im Sein wie die Natur oder die Substanz selbst der Seele. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de morib. Ecclesiae c. 11.): „Die heilige Liebe ist eine Tugend, die uns mit Gott verbindet, kraft deren wir Gott lieben und unsere Hinneigung die rechte Richtung hat.“
b) Ich antworte, die menschlichen Akte haben den Charakter der Güte, insoweit sie durch die entsprechende Richtschnur geregelt werden. Die Tugend also ist nur in der Weise Princip von guten Akten, daß sie die doppelte Richtschnur der menschlichen Thätigkeiten erreicht: die menschliche Vernunft nämlich und Gott. Wie nun die natürliche Tugend darin besteht, daß sie „nach der rechten, gesunden Vernunft“ ist, so bildet auch das Berühren der göttlichen Richtschnur den Wesenscharakter der Tugend. Das thut aber die Liebe, die „uns mit Gott verbindet.“ Also ist sie eine Tugend.
c) I. Aristoteles leugnet nicht, die Freundschaft sei eine Tugend; er sagt vielmehr, „sie sei entweder Tugend oder in Begleitung der Tugend.“ (Ethic. 8.) Denn sie kann ganz wohl eine moralische Tugend sein, die sich mit den Thätigkeiten im Verhältnisse zu einem anderen beschäftigt; freilich unter einem verschiedenen Gesichtspunkte wie die Gerechtigkeit. Denn diese beschäftigt sich mit anderen unter dem Gesichtspunkte des Geschuldeten oder Verpflichtenden, was vom Gesetze kommt; die Freundschaft aber unter dem Gesichtspunkte des Freundschaftlichen und, ohne sonstigen Grund, des gern Gegebenen. Jedoch ist sie keine Tugend, die an und für sich von den anderen moralischen Tugenden unterschieden wäre. Denn sie hat den Charakter des Lobwürdigen und Ehrbaren einzig vom Gegenstande, insofern sie also begründet ist auf der Ehrbarkeit der Tugenden; da ja nicht jede Freundschaft den Charakter des Lobwerten und Ehrbaren hat, z. B. nicht jene, welche auf dem bloßen Ergötzen oder auf dem reinen Nutzen beruht. Die tugendhafte Freundschaft also ist vielmehr etwas aus der Tugend Folgendes als selber eine für sich bestehende Tugend. Das gilt aber nicht von der heiligen Liebe, welche ihre Grundlage nicht hat in menschlicher Tugend, sondern in der göttlichen Güte. II. Das gehört zu ein und derselben Tugend: jemanden lieben und an ihm sich erfreuen. Denn die Freude folgt der Liebe. (I., II. Kap. 25, Art. 2.) Da also die heilige Liebe der Grund für die Freude ist, so wird mehr die Liebe als die Ursache Tugend genannt, wie die Freude als eine Wirkung der Liebe. III. Im Sein betrachtet ist jegliche Eigenschaft geringer wie die Substanz oder das innere Wesen. Denn die Substanz hat ein Für-sich-sein, besteht selbständig; während die Eigenschaft nur ein Sein kraft etwas Anderem und im Anderen hat. Nach dem Wesenscharakter ihrer eigenen Gattung aber ist wohl jene Eigenschaft, welche aus den Principien des zu Grunde liegenden Wesens verursacht wird, niedriger als dieses letztere, ihr Subjekt, wie die Wirkung niedriger steht als die Ursache. Jene Eigenschaft indessen, welche ihre Ursache hat in der Teilnahme an einer höheren Natur, steht höher wie das zu Grunde liegende Wesen oder die Substanz, ihr Subjekt; denn sie ist die Ähnlichkeit mit einer höheren Natur. So steht auch das Licht höher wie der bloß durchscheinende Körper. Danach also ist die heilige Liebe höher und edler wie die Seele; denn sie ist eine Mitteilung von seiten des heiligen Geistes.
