Vierter Artikel. Die heilige Liebe ist eine eigene, von allen anderen verschiedene Tugend.
a) Dem steht entgegen: I. Hieronymus sagt: „Kurz will ich die ganze Begriffsbestimmung der Tugend angeben: Tugend ist Liebe, kraft deren Gott geliebt wird und der Nächste.“ Und Augustin (15. de civ. Dei 22.): „Tugend ist nichts Anderes als die Ordnung der Liebe.“ Keine eigene besondere Tugend für sich kann aber so in die Begriffsbestimmung der Tugend im allgemeinen gesetzt werden. II. Die heilige Liebe erstreckt sich auf alle Tugendwerte, nach 1. Kor. 13.: „Die Liebe ist geduldig, gütig etc.“ Zudem erstreckt sie sich auf alle menschlichen Thätigkeiten, nach 1. Kor. ult.: „Alles, was ihr thut, soll in Liebe vor sich gehen.“ Also ist sie keine eigene, besondere Tugend. III. Die Gebote des Gesetzes entsprechen den Tugendakten. Augustin aber sagt (de perf. hum. justitiae 5.): „Ein allgemeines Gebot ist es: Du sollst lieben; ein allgemeines Verbot: Du sollst nicht begehren.“ Die Liebe also ist Tugend im allgemeinen; jede Tugend ist Liebe. Auf der anderen Seite zählt der Apostel (1. Kor. 13.) die heilige Liebe als besondere Tugend neben dem Glauben und der Hoffnung auf.
b) Ich antworte, der Wesenscharakter einer besonderen Tugend bestimme sich nach dem entsprechenden Gegenstande. Wo also ein besonderes Gute oder eine besondere eigene Beziehung des Guten eintritt, da entspricht dem auch eine eigene besondere Tugend. Das göttliche Gut aber, insoweit es Gegenstand der Seligkeit ist, hat einen besonderen Charakter des Guten. Also entspricht dem eine eigene Tugend, die heilige Liebe.
c) I. Von der heiligen Liebe hängen irgendwie alle anderen Tugenden ab. So wird auch die Klugheit in die Begriffsbestimmung aller moralischen Tugenden gesetzt; denn sie hängen von derselben ab. II. Die Tugend oder die Kunst, welche den betreffenden letzten Endzweck zum Gegenstande hat, befiehlt jenen anderen Tugenden und Künsten, welche einem diesem untergeordneten Zwecke entsprechen. Weil also der Gegenstand der heiligen Liebe der letzte Endzweck des ganzen menschlichen Lebens ist, nämlich die ewige Seligkeit, so erstreckt sie sich als Gebieterin auf alle menschlichen Thätigkeiten; nicht als ob sie unmittelbar das Princip aller Tugendthätigkeit wäre. III. Alle anderen Gebote haben ihren Endzweck in der heiligen Liebe: „Der Zweck des Gesetzes ist die Liebe.“ (1. Tim. 1.)
