Sechster Artikel. Als gemeinsame Tugend kommt die Gerechtigkeit mit den übrigen Tugenden nicht im Wesen überem.
a) Das Wesen der Gerechtigkeit und aller übrigen Tugenden ist das nämliche. Denn: I. 5 Ethic. 1. sagt Aristoteles: „Die Gerechtigkeit ist dasselbe wie jede andere Tugend; nur das thatsächliche Sein, die Äußerung oder die Auffassung ist nicht die gleiche.“ II. Ebenso schreibt er I. c.: „Die Gerechtigkeit ist nicht ein Teil der Tugend im allgemeinen, sondern die ganze Tugend.“ III. Daß die Thätigkeit einer Tugend zu einem höheren Zwecke hingelenkt wird, macht keinen Unterschied in dem Wesenscharakter der Tugenden; wie die Mäßigkeit dieselbe bleibt, trotzdem sie auf das göttliche Gut bezogen wird. Die gesetzliche Gerechtigkeit aber ist es, welche alle Tugendakte zu einem höheren Zwecke, zum Zwecke des Gemeinbesten hinordnet. Also ist sie dem Wesen nach jede Tugend. IV. Jedes Gute im Teile, was dem Ganzen nicht dienen kann, ist wesentlich nutzlos. Keine Tugend aber ist dies. Also ist jede Tugend wesentlich Gerechtigkeit, da diese jedes Tugendwerk zum Ganzen hinbezieht. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (l. c.): „Viele können für sich selber tugendhaft sein und nicht, wenn es sich um den anderen handelt;“ und (3 Po!it. 3.): „Nicht ist dies schlechthin die gleiche Tugend, die eines guten Bürgers und die eines guten Mannes.“
b) Ich antworte, „allgemein“ oder „gemeinsam“ wird etwas genannt: entweder mit Rücksicht auf die Aussage, wie das „Sinnbegabte“ dem Menschen und dem Pferde gemeinsam ist; und dieses Allgemeine gehört zum Wesen; — oder mit Rücksicht auf die innere Kraft, die sich auf Alles erstreckt, wie die Sonne allgemein ist für alles Sichtbare, weil sie Alles beleuchtet; und dies gehört nicht zum Wesen, wie ja auch die Ursache nicht das gleiche Wesen hat als die Wirkung. In der letzterwähnten Weise nun ist die Gerechtigkeit eine „allgemeine“ Tugend; denn sie hat die Kraft, alle Tugendakte zum Gemeinbesten hinzuleiten. So ist auch die heilige Liebe eine allen Tugenden gemeinsame Tugend, weil sie alle Tugendakte zum göttlichen Gute hinlenkt. Wie also dem inneren Wesen nach die Liebe als eine besondere Tugend dasteht, weil ihreigenster Gegenstand das göttliche Gut ist; so erscheint die „gesetzliche“ Gerechtigkeit wesentlich als eine besondere Tugend, denn ihr eigenster Gegenstand ist das Gemeinbeste. Sie ist im Fürsten in leitender Weise, in den Unterthanen als in den regierten oder geleiteten.
c) I. und II. sind damit beantwortet. III. Die von der „gesetzlichen“ Gerechtigkeit gelenkte Tugend ist eben insoweit „gesetzliche“ Gerechtigkeit. IV. Von sich selber hat jede Tugend es, ihren Akt zu dem ihr eigenen Zwecke zu lenken. Daß ihr Akt aber auf einen höheren Zweck sich richte; das hat sie nicht von selbst, sondern eine höhere Tugend ist da erfordert. Und deshalb besteht eine eigene Tugend, welche alle Tugenden zum Gemeinbesten bezieht.
