Fünfter Artikel. Die Gerechtigkeit, insoweit sie ein allen Tugenden gemeinsames Moment in sich enthält, nämlich als allgemeine Tugend.
a.) Die Gerechtigkeit ist keine allgemeine Tugend. Denn: I. Sie wird Sap. 8, 7. als eine von der Klugheit, Mäßigkeit unk Stärke verschiedene Tugend aufgezählt. II. Die Mäßigkeit und Stärke sind Kardinaltugenden wie die Gerechtigkeit; sind aber keine allgemeine, in allen Tugenden sich vorfindende. Also ist auch die Gerechtigkeit keine allgemeine Tugend. III. Die Gerechtigkeit schließt immer die Beziehung zu einem anderen in sich ein. Die Sünde aber gegen den Nächsten ist keine allgemeine, sondern von der gegen die eigene Person geschiedene. Auf der anderen Seite fagt Aristoteles (5 Ethic. 1.): „Jede Tugend ist Gerechtigkeit.“
b) Ich antworte, die Gerechtigkeit regele die Beziehungen zu einem anderen Menschen; entweder insoweit dieser als für sich, als Privatperson, betrachtet wird oder insoweit er zum Ganzen des Menschengeschlechtes gehört; denn wer einem Gemeinwesen dient, der dient allen einzelnen darin enthaltenen Personen. Jeder Mensch aber verhält sich zum Ganzen des Menschengeschlechtes wie ein Teil und somit ist von vornherein was er an sich Gutes hat auch beziehbar auf das Gute des Ganzen; denn was ein Teil ist, das hat derselbe vom Ganzen. Jegliche Tugend also des einzelnen steht in positiver Beziehung zum Gemeinbesten, auf welches hin die Gerechtigkeit Regel und Richtschnur ist. Danach also können alle Tugendakte zur Gerechtigkeit gehören, insoweit diese den Menschen hinordnet zum Ganzen. Und in diesem Sinne ist die Gerechtigkeit eine gemeinsame Tugend; sie wird so „gesetzliche Gerechtigkeit“ genannt; weil kraft ihrer der einzelne Mensch dem Gesetze gleichförmig ist, von dem alle Tugendakte zum Gemeinbesten hingeleitet werden.
c) I. Nicht mit Rücksicht auf den Charakter des Gemeinsamen in ihr, sondern als besondere Tugend wird die Gerechtigkeit von den anderen Tugenden geschieden. II. Die Mäßigkeit und Stärke haben ihren Sitz im sinnlichen Teile, der auf das Besondere oder Beschränkte geht; wie er auch nur Besonderes oder Beschränktes erkennt. Die Gerechtigkeit aber ist im vernünftigen Teile, der das allgemeine, Allem also gemeinsame Gut betrachtet. III. Die eigene persönliche Tugend dient dem Gemeinbesten; und die Ungerechtigkeit ist in diesem Sinne auch eine gemeinsame Sünde, denn „alle Sünde ist Ungerechtigkeit.“ (1. Joh. 3.)
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