Zweiter Artikel. Die Keuschheit ist keine allgemeine Tugend.
a) Die Keuschheit ist jeder Tugend eigen. Denn: I. Augustin sagt (de mend. 20.): „Die Keuschheit der Seele ift eine geregelte Thätigkeit, kraft deren Geringeres unterworfen ist dem Größeren;“ was jeder Tugend eigen ist. II. Jede Thätigkeit des Begehrens muß durch die Vernunft gereinigt werden. Also bedeutet die Reinigkeit alle moralischen Tugenden. III. Der Keuschheit steht gegenüber die Unkeuschheit. Diese aber erstreckt sich auf alle Arten Sünde, nach Ps. 72.: „Du wirst verderben alle unkeuschen: jene, die von Dir abfallen.“ Auf der anderen Seite zählt Macrobius die Keuschheit zu den Teilen der Mäßigkeit.
b) Ich antworte, der Name „Keuschheit“ bedeute im eigentlichen Sinne die Zügelung der Begierden betreffs des Geschlechtlichen; im übertragenen die Verbindung des Geistes mit Gott. Wenn nämlich der Geist sich ergötzt an der Verbindung mit dem, was zu ihm paßt, also mit Gott und sich der Verbindung mit dem enthält, was gegen die göttliche Ordnungist, so wird dadurch die geistige Keuschheit verursacht, von der Paulus schreibt (2. Kor. 11.): „Ich habe euch verlobt mit einem Manne, als keusche Jungfrau Christo anzuhängen.“ Verbindet sich dagegen der Geist mit anderen Dingen gegen die göttliche Ordnung, so ist das geistige Unkeuschheit, von der Jeremias spricht (3, 1.): „Du hast Unkeuschheit getrieben mit vielen Liebhabern.“ In diesem Sinne aufgefaßt, ist die Keuschheit eine allgemeine Tugend; weil durch jede Tugend der Mensch abgehalten wird, sich mit Unerlaubtem zu verbinden. Der Wesenscharakter dieser Art Keuschheit aber findet sich vornehmlich in der heiligen Liebe und den anderen theologischen Tugenden, durch welche der Mensch mit Gott verbunden wird.
c) I. Das ist von der Keuschheit im übertragenen Sinne zu verstehen. II. Die Begierde nach dem sinnlich Ergötzlichen wird als ähnlich dem Kinde bezeichnet, weil sie am meisten der Natur in uns entspricht; und zumal ist dies der Fall bei der Begierde nach dem für den Tastsinn Ergötzlichen, was zur Erhaltung der Natur dient. Wird solche Begierde also genährt, insofern man ihr zustimmt, so wird sie in hohem Grade zunehmen; wie das Kind immer unbotmäßiger wird, wenn man seinen Willen thut. Solche Begierde verdient somit im höchsten Grade es, daß man sie züchtige, reinige; und deshalb wird die darauf bezügliche Tugend im engeren Sinne Reinheit, Keuschheit genannt; wie die Stärke so genannt wird, weil sie auf die größten Gefahren sich bezieht. III. Dies ist im übertragenen Sinne zu verstehen.
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