Erster Artikel. Die Keuschheit ist eine Tugend.
a) Dies wird geleugnet. Denn: I. Die Tugend wird mit Rücksicht auf die Seele ausgesagt. Die Keuschheit will aber nur besagen die Beziehung zum Gebrauche gewisser Körperteile. II. Die Tugend ist etwas Freiwilliges. Die Keuschheit aber kann weiblichen Personen gegen ihren Willen genommen werden. III. Die ungläubigen haben keine Tugend, sind aber manchmal keusch. IV. Die Keuschheit ist eine Frucht (Galat. 5.); also keine Tugend. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de 10. cordis 3.): „Während du in der Tugend vorangehen sollst deiner Frau, fällst du unter dem ersten Anpralle der Begierde und willst, deine Frau solle Siegerin sein.“
b) Ich antworte, der Name Keuschheit (castita) oder Reinigkeit komme daher, daß die Begierde durch die Vernunft gezüchtigt oder gereinigt werde, da die Begierde wie ein Kind am Zügel zu halten ist. (3 Ethic. ult.) Daß aber etwas unter das Maß der Vernunft gebeugt werde, das ist eben Tugend. Also ist offenbar die Keuschheit eine Tugend.
c) I. Die Keuschheit hat ihren Sitz in der Seele; ihr Gegenstand aber oder ihre Materie ist der Körper. Gemäß der Vernunft nämlich soll man maßvoll gewisser körperlicher Glieder sich bedienen. II. Augustin schreibt darüber (1. de civ. Dei 18.): „Bleibt in der Seele der Vorsatz der Keuschheit, durch den auch der Körper geheiligt zu werden verdiente, so kann selbst die Gewaltthat fremder Begierde dem Körper seine Heiligkeit nicht nehmen; an dieser hält fest die Beharrlichkeit der Enthaltsamkeit, … die Keuschheit ist eine Tugend der Seele, ihr Begleiter ist die Stärke, kraft deren man vielmehr beliebige Übel ertragen muh, als Üblem zustimmen.“ III. „Fern sei es, daß in einem wahre Tugend sei, der nicht gerecht ist; fern sei es, daß jemand in Wahrheit gerecht sei, der nicht aus dem Glauben lebt,“ sagt Augustin. (4. cont. Julian. 3.) Und daraus schließt er, daß in den ungläubigen weder wahrhaft Keuschheit sei noch eine andere Tugend; weil solche sogenannte Tugenden nämlich nicht zum gebührenden Zwecke bezogen werden, „da nicht auf Grund von Thätigkeiten, sondern auf Grund des Zweckes die Laster von den Tugenden unterschieden werden“ (l. c.). IV. Insoweit die Keuschheit gemäß der Vernunft thätig ist, hat sie den Charakter einer Tugend; insoweit sie Freude hat an ihrem Akte, zählt sie zu den Früchten.
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