Zweiter Artikel. Dem Wesen nach gehören zum beschaulichen Leben nicht die moralischen Tugenden.
a) Das Gegenteil wird behauptet. Denn: I. Das beschauliche Leben soll „mit aller Kraft die Liebe Gottes und des Nächsten wahren.“ (Gregor. l. c.) Alle moralischen Tugenden aber lassen sich zurückführen auf die Liebe Gottes und des Nächsten; denn „die Fülle des Gesetzes ist die Liebe.“ (Röm. 13.) Also gehören zum beschaulichen Leben die moralischen Tugenden. II. Das beschauliche Leben will vor Allem Gottes Schönheit betrachten. (Gregor. l. c.) Dazu kommt aber jemand nur durch die Reinheit, welche von der moralischen Tugend verursacht wird, nach Matth. 5.: „Selig die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen;“ und nach Hebr. 12.: „Frieden haltet mit allen und seid heilig; denn ohne das kann niemand Gott schauen.“ III. Gregor sagt (in Ezech. l. c.): „Das beschauliche Leben ist schön gestaltet in der Seele,“ weshalb es durch Rachel ausgedrückt wird, „die schön war von Angesicht.“ Die Schönheit der Seele aber hängt von den moralischen Tugenden ab und zumal von der Mäßigkeit, nach Ambrosius. (I. de offic. 43.) Also gehören die moralischen Tugenden zum beschaulichen Leben. Auf der anderen Seite haben die moralischen Tugenden zum Zwecke die Regelung der äußerlichen Thätigkeiten; das beschauliche Leben aber sieht ab von solcher Thätigkeit.
b) Ich antworte, dem Wesen nach gehören zum beschaulichen Leben nicht die moralischen Tugenden; denn sein Zweck ist die Betrachtung der Wahrheit. „Wissen aber hat“ nach 2 Ethic. 2. „wenig Einfluß auf die moralischen Tugenden.“ Sonach gehören nach 10 Ethic. 7. die moralischen Tugenden zur thätig wirksamen Glückseligkeit, nicht zur beschaulichen. Jedoch sind die moralischen Tugenden zum beschaulichen Leben erfordert als vorbereitendes Element. Denn die thatsächliche Betrachtung der Wahrheit wird gehindert durch die Heftigkeit der Leidenschaften, welche die Seele abziehen zum Sinnlichen. Diese Heftigkeit nun beruhigen die moralischen Tugenden und stillen somit den Tumult der äußeren Beschäftigungen.
c) I. Der Anstoß zum beschaulichen Leben kommt von dem begehrenden Teile; und danach ist die Liebe Gottes und des Nächsten für das beschauliche Leben erfordert. Solche bewegende, den Anstoß gebende Ursachen aber treten nicht in das Wesen des betreffenden Gegenstandes ein, sondern bereiten vor und vollenden nachher. II. Die Reinigkeit wird verursacht durch die Tugenden, welche sich mit Leidenschaften, also den Hindernissen einer reinen Vernunft, beschäftigen; der Friede aber ist „das Werk der Gerechtigkeit“ (Isai. 32.), welche auf die äußerlichen Thätigkeiten sich richtet, insoweit jener, der da andere nicht beleidigt, sich den Gelegenheiten zu Streit und Zank entzieht. Und so bereiten die moralischen Tugenden das beschauliche Leben vor, indem sie Frieden und Reinigkeit verursachen. III. Die Schönheit besteht in den gebührenden Verhältnissen und in einem gewissen hellen Glänze. Beides findet sich in der Vernunft, der da angehört sowohl das offenbarende Licht wie die Richtschnur für alle äußeren und inneren Verhältnisse. Dem Wesen nach also findet sich im Akte der Vernunft, somit im beschaulichen Leben, die Schönheit, so daß Sap. 8. gesagt wird von der Betrachtung der Weisheit: „Liebhaber bin ich geworden ihrer Schönheit.“ Die moralischen Tugenden aber nehmen nur teil an der Schönheit, insoweit sie an der Vernunft Anteil haben, durch die sie geregelt werden; und zumal nimmt daran teil die Mäßigkeit, welche die das Licht der Vernunft am meisten verdunkelnden Begierlichkeiten mäßigt. Deshalb macht die Tugend der Keuschheit den Menschen im höchsten Grade geeignet für das beschauliche Leben; denn die Wollust drückt den Geist nieder zur Tiefe. (Aug. 1 Soliloq. 10.)
