Leben der Heiligen Verena
S. 37 (Nimm und lies in Verehrung zu ihr das Leben der heiligen Jungfrau Verena, so wie es von alters her überliefert wurde und unsere Feder es nun darstellt.
Auf Grund bestimmter uns überkommener Berichte möchten wir das Leben dieser glorreichen Jungfrau beschreiben. So flehen wir denn die Gnade des allmächtigen Gottes an, damit es uns vergönnt sei, unsern Brüdern und Schwestern in diesem Werk etwas Wohlgefälliges und Ersprießliches vorzulegen. Ein Tugendleben zu lesen, fruchtet ja nichts, wenn wir uns nicht bemühen, ein Tugendleben zu führen. Deshalb soll ja Frommsinn das Andenken an Heilige wachrufen, damit er ob deren Beispiel noch eifriger werde und die Mühsal seines Pilgerdaseins meistere durch Beschreiten ihrer Bahn. In voller Aufmerksamkeit soll er mit dem Auge der Seele betrachten, was an den einzelnen Taten der Heiligen Gottes besonderes Wohlgefallen fand, und mit Feuereifer erspüren, was er selbst mit Hingabe zu tun hat.)
Unsere heilige Jungfrau war der Überlieferung nach aus Theben gebürtig. Als Erstgeborene höchst ehrbarer Eltern wurde sie einem heiligen Bischof zur Taufe und zum Unterricht im Glauben anvertraut. Da dieser später mit dem Martyrium gekrönt wurde - es war nämlich der greise Cheremon -, gelangte die Jungfrau mit einigen Christen nach Unteraägypten,
Anmerkung: Die Abschnitte in runder Klammer finden sich nur im ältern Leben , jene in eckiger Klammer nur im spätern, der Rest in beiden.
S. 38wo damals in den Heerlagern der Kaiser Diokletian und Maximian Gläubige in überaus großer Zahl für den Kriegsdienst ausgehoben wurden. Die schon vor her auserlesene heilige Thebäische Legion des Mauritius stand damals dort in Dienst.
Vom Wunsche beseelt, nach Italien zu kommen, tat sich die Christus geweihte Jungfrau mit andern Gläubigen zusammen und gelangte so nach Mailand. Das glühende Verlangen nach der Glorie des Martyriums im Herzen, suchte sie eifrig die Stätten der Märtyrer und die Kerker der Heiligen auf. Ein heiliger Mann namens Maximus hielt sie zurück, und so verblieb sie einige Jahre daselbst.
Schließlich vernahm sie, die heilige Legion des hoch seligen Mauritius sei vom gottlosen Kaiser Maximian um ihrer Treue zu Christus willen mit dem Schwerte hingemacht worden, und der ihr in besonderer Weise verbundene heilige Viktor habe in derselben Legion ebenfalls die Krone erlangt. Da eilte sie über die Alpenpässe nach Acaunum, um in Erfahrung zu bringen, wie sich die Sache verhalte.
Nach ihrem Weggang von dort nahm sie Wohnung jenseits des Aareflusses, nicht weit vom Kastrum Solothurn, bei einem heiligen Manne, der aus der Thebäischen Legion entkommen war. Mit wunderbarem Eifer verharrte sie fast Tag und Nacht in Fasten und Beten. Sie widmete sich den Psalmen und hatte meistens des heiligen Cyprian Buch·«Über die Haltung der Jungfrauen» zur Hand, worin der hochheilige Märtyrer lehrt, die Zucht sei die Hüterin der Hoffnung, die Bewahrerin des Glaubens, die Führerin auf dem Wege des Heils die Erweckerin
und Nährerin eines
S. 39guten Herzens. In ihrem eifrigen Streben, den Lohn für die Tugend vollständiger Keuschheit und die Palme unvergleichlicher Vergeltung zu erlangen, schloß sich die hochheilige Jungfrau Verena einmal lange in einer ganz engen Höhle ein, um sich so abzutöten.
Nicht weit weg wohnte eine betagte christliche Frau. Das Alemannenvolk nämlich war noch dem Teufel untertan und hatte sich verschiedene Ungeheuer von Götzenbildern zu Gottheiten aufgestellt. Jenes alte Weiblein nun verkaufte, was die gottgeweihte Jungfrau sich mit ihrer Hände Arbeit anfertigen konnte, und beschaffte ihr so hinreichenden Lebensunterhalt. Auch wirkte der Herr durch seine Dienerin Verena sehr viele Wunderzeichen. So wurden einige Besessene, noch bevor sie zur Höhle kamen, darin die Dienerin Gottes sich aufhielt, durch deren Gebet von der Nachstellung des Teufels befreit. Ebenso erhielten Blinde durch Berührung mit ihr das Augenlicht. Als nun die Wunder sich mehrten, fühlte sich eine Menge Alemannen zum Glauben an Christus hingezogen und wurde auf Verwenden der Jungfrau von einem Priester italischer Herkunft, der um der Treue zu Christus willen in der Verbannung lebte, getauft. Von hier aus begann der Name Christi sich weiter im Lande der Alemannen auszubreiten.
So drang denn der Ruf der Jungfrau hinaus in jenes ganze Land und verbreitete sich in solchem Maße, daß sie als Mutter der Jungfrauen hingestellt wurde und um ihrer besonderen Frömmigkeit willen allenthalben beim Volke als verehrungswürdig galt. Sie führte allen Jungfrauen das folgende Bild der Frömmigkeit vor Augen: Je erhabener und göttlicher die Größe dieser S. 40Gnadengabe sei, um so notwendiger sei zu ihrem Schutz behutsame Bescheidenheit. Sie möchten sich überall in acht nehmen vor der Gefahr des Stolzes, dessen Nachstellungen mit der Vollkommenheit wüchsen, und vor dem Neide, der ihm auf dem Fuße folge gleich einem Kinde. Es gebe nämlich keinen Stolz ohne diese Nachkommenschaft und Gefolgschaft. Urheber dieser beiden Übel, des Stolzes und des Neides nämlich, sei aber der Teufel. Sie möchten also dem Lamme folgen, wohin immer es gehe, nicht nur in unverletzter Jungfrauschaft, sondern auch in der Gnade tiefernster Demut. Diejenigen, die sich Christus geweiht und im Verzicht auf Fleischeslust mit Leib und Seele sich Gott geopfert, möchten ihr Werk vollenden, da ihm großer Lohn verheißen sei. Für niemand anders sollten sie sich schmücken, keinem andern zu gefallen suchen, als ihrem Herrn, von dem sie den Lohn für ihre Jungfräulichkeit zu erwarten hätten. Sie sollten nicht nur tatsächlich Jungfrauen sein, man müsse ihnen dies auch ansehen und glauben können. In allem solle die Unverletztheit in gleicher Weise zutage treten, damit nicht Körperputz das Gute in Verruf bringe. Was wolle eine aufgeputzt und frisiert daherkommen, als oh sie einem Manne gefallen möchte? Es gehe nicht an, daß eine Jungfrau sich aufputzen lasse, damit ihre Gestalt hervortrete, noch daß sie sich fleischlicher Schönheit rühme; denn gegen nichts habe sie einen härteren Kampf zu führen als gegen das Fleisch, um nichts ein zäheres Ringen als um die Bezwingung des Fleisches und dessen Bändigung. Geringere Schuld sei es, sich vergangen zu haben, bevor man sich die Unschuld zum Gesetz gemacht, weil man S. 41da die Zuchtschnur noch nicht kannte; schwerer aber sei die Schuld nach Ablegung des Gelübdes. Je erhabe ner endlich der Ruhm sei, der den Jungfrauen zukomme, um so größer müßte die Sorge um sie sein. Die Jungfrauschaft sei ja die Blüte am Baume der Kirche, ein Schmuck und eine Zier der Geistesgnade, erfreuliche Anlage zu Lob und Ehre, ein untadeliges und unversehrtes Werk, ein der Heiligkeit des Herrn entsprechendes Abbild Gottes, der erlauchteste Teil der Herde Christi.
Da nun aber jeder Tugendfortschritt dem Teufel stets zuwider ist, entbrannte ein gottesräuberischer, unter der römischen Staatsgewalt stehender Tyrann für die gottgeweihte Jungfrau, tat ihr mancherlei Unbill an und hielt sie einige Tage im öffentlichen Gefängnis fest. Sie aber betete Psalmen und stellte sich gänzlich Gott anheim. Da erhielt sie nächtlicherweile Besuch von einem Jüngling, der über die Maßen leuchtete und ihr Trost zusprach. Sie vernahm die mahnenden Worte, vor niemands Drohung zu weichen und nicht abzugehen vom Pfad der Wahrheit. Auf die Frage, wer denn sie eines Besuches gewürdigt habe, gab er zur Antwort, er sei von Gott gesandt und werde im Reiche des Lebens den Märtyrern beigezahlt. Sein Name sei Mauritius. Auf diese Worte hin warf sie sich nieder zum Gebet und bat den lichtumstrahlten heiligen Märtyrer inständig, er möge ihrer gedenken beim Herrn. Und plötzlich umschritt eine große Schar Jünglinge, in Purpurmantel gehüllt und mit einem blendendweißen Gewande geschmückt, den heiligen Märtyrer. So wurde er vor den Augen der Jungfrau verdeckt und entschwand.
S. 42In derselben Nacht wurde jener Tyrann von einem heftigen Fieber gepackt. Bereits dem Tode nahe, ließ er eilends die Dienerin Gottes holen und mit großen Ehrenbezeugungen vor sich führen. Sie aber verrichtete ein Gebet und vertrieb damit das heftige Fieber aus dem Leibe des Tyrannen. Da priesen sie alle, und man schickte sie in das Haus der Jungfrauen zurück.
Eines Tages nun ging daselbst das zum Leben notwendige Brot aus, was ihre Hausgefährtinnen sehr bedrückte. Sie selbst aber zweifelte nicht daran, daß ihnen in dieser Bedrängnis die Mildherzigkeit des Herrn nahe sei. So wandte sie sich denn an den Herrn und betete nach der Überlieferung wie folgt: «Herr, Du gibst Deinen ·Geschöpfen Nahrung zur rechten Zeit. Du siehst auch, was Deinen Dienerinnen frommt, und hast vorausbestimmt, wie wir unser Leben fristen sollen.» Kaum hatte sie diese Worte zu Ende gesprochen, da fanden sich am Eingang zu ihrer Zeile vierzig Säcke voll besten Mehles. Nun schickten sich aile an, den Herrn zu preisen. Mit dem Mehle aber konnten sie sich einige Jahre lang nähren, denn es mehrte sich unter ihren Zähnen und sättigte sie völlig.
[Wie nun aber ihr Ruf wuchs und sich überallhin ausbreitete, entfloh sie heimlich dem Lobe der Menschen, um nicht des Lohnes der ewigen Vergeltung verlustig zu gehen. So kam sie zu einer nicht sehr großen Insel, wo sie in einer von den Christen erbauten Hütte eine Zeitlang ihr Leben verbrachte und ständig im Gebete verharrte. Weil aber Wunderzeichen von ihr ausgingen, fügte es unser Herr Jesus Christus, daß sie auch hier vom Volke nicht weniger nach Gebühr geehrt wurde.
S. 43Nach vielen Zeichen und Wundem, die der Herr durch seine Dienerin Verena in der Zelle bei Solothurn wirkte, machte sie sich auf Wanderschaft und gelangte dem Aareufer entlang bis zur Mündung in den Rhein. Wie bereits erwähnt, traf sie beim Zusammenstrom der genannten Flüsse auf eine schöne Insel. Doch wimmelte es darauf von Schlangen, so daß sie ihr Haupt nicht auf die Erde niederlegen konnte. So begann denn die hochselige Jungfrau Christi zum Herrn zu flehen und sprach: «Herr, allmächtiger Konig, in Deine Hand ist alles gelegt. Deinem Willen kann niemand widerstehen. Wie Du den Schlangen geboten hast, auf ihrem Bauche zu kriechen, so befiehl nun diesen hier, keinem Menschen auf der Insel zu schaden und keinem Tier.» Da vernahm die heilige Verena eine Stimme vom Himmel, die zu ihr sprach: «Der Herr hat dein Flehen dieser Schlangen wegen erhört und wird deine Gebete und Bitten, die du an ihn richtest, täglich erhören. Mach das Zeichen des Kreuzes wider die Schlangen und befiehl ihnen, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes auszuziehen und zu weichen von diesem Ort. Und jeder Mensch, der dich in irgendeiner Bedrängnis um Hilfe anruft, wird befreit werden von der Drangsal, die ihn befallen hat.» So breitete denn die gottgeweihte Jungfrau Verena ihre Hand aus und machte das Zeichen des Kreuzes wider die Schlangen. Da wandten sie sich zur Flucht. Alle entflohen über das Wasser, und nie mehr zeigte sich auch nur eine von ihnen. Als die selige Jungfrau Verena die Schlangen fliehen sah, sprach sie: «Gelobt und gepriesen sei von mir Dein Name, o Gott. Ich freue mich und frohlocke, weil Du Dich gewürdigt
S. 44hast, die Stimme meines Flehens zu erhören. Nun weiß ich, daß Du niemand im Stiche läßt, der zu Dir fleht.»
Daraufhin kamen viele Kranke, Blinde und Lahme zu ihr, und sie heilte sie. Auch ein armes Weiblein nahte sich ihr, das seinen blinden und lahmen Knaben auf den Schultern trug. Es warf ihn zu Füßen der Jungfrau und sprach: «Verena, hochheilige Jungfrau Christi, um der Liebe zu deinem Gotte willen bitte ich dich, hilf meinem Knaben, denn er ist blind und lahm.» Die Jungfrau Christi Verena antwortete: «Was willst du, daß ich ihm tun soll ?» Das Weiblein erwiderte und sprach: «Hochheilige Jungfrau, mach ihn sehen und gehen, denn ich vermag ihn nicht mehr zu tragen.» Da warf sich die gottgeweihte Jungfrau Verena in Kreuzesform auf die Erde hin und flehte zum Herrn mit den W orten: «Herr Gott, Du hast den Menschen aus dem Lehm der Erde gemacht und hast ihm Augen geschaffen zum Sehen, Ohren zum Hören, Füße zum Gehen. Laß diesen Blinden und Lahmen wieder sehen und gehen.» Und alsogleich stand er auf, konnte sehen und gesund gehen. Der Ruf von diesen Wunderzeichen verbreitete sich nun in jenen Gebieten, und viele Kranke kamen zu ihr. Durch ihre heiligen Gebete machte sie alle gesund.
Von hier gelangte die selige Verena zu einem Kastrum, das von alters her Zurzach genannt wurde. Dort fand sie eine zu Ehren der heiligen Maria, der Mutter des Herrn, erbaute Kirche. Da begann sie zum Herm zu beten und sprach: «Unsichtbarer Gott, vor dem der Meeresgrund erzittert und des Meeresgrundes Schätze, Du hast den Reichtum des Paradieses geschaffen und S. 45dem Meere Grenzen gewiesen, die es nicht überschreitet gegen Deinen Willen. Du hast die Unterwelt zu einer Wüste gemacht, den Teufel in Fesseln geschlagen und des großen Drachen Gewalt gebrochen. Du weißt, daß ich allein bin hier, eine Pilgerin und eine Waise. Laß mich um Deiner großen Barmherzigkeit willen an dieser Stätte den Tag meines Hinscheidens abwarten.» Nachdem sie ihr Gebet zu Ende gesprochen, betrat der Priester die Kirche und sang die Messe. Die heilige Verena aber brachte in ihren heiligen Händen eine Ampulle Wein und opferte sie am Altare in die Hände des Priesters. Als dieser die Messe beendet hatte, sprach er zu ihr: «Woher bist du, Frau ?» Sie antwortete und sprach: «Ich stamme von Theben und war im Gefolge des Mauritius, des heiligen Märtyrers Christi. Auch ich bin Christin und möchte hier verbleiben bis an mein Lebensende, um Christus zu dienen und seiner heiligen Mutter Maria.» Der Priester gab ihr zur Antwort: «Wenn du hier bei uns sein willst, so bleibe in meinem Hause und verfüge über meine Habe». Und er überließ ihr den Kellerschlüssel und alles, was er hatte. Die selige Verena aber diente dem Herrn Jesus Christus bei Tag und bei Nacht in Wachen, Fasten und heiligen Gebeten, und was immer sie konnte, wandte sie als Almosen für die Armen auf.
Es war aber dort am Ufer des Rheins eine Stadt, in der es viele Aussätzige und andere Arme Christi gab. Täglich begab sich die hochheilige Jungfrau Christi Veren z u ihnen, brachte ihnen zu essen und zu trinken, wusch ihnen den Kopf und salbte sie. Da ging ein Knecht des Priesters zu diesem hin und sagte: «Mein Herr, die Frau, die da bei dir ist und deinen Schlüssel hat, nimmt täglich S. 46 von deinem Wein und allem, was du hast, und bringt es den Aussätzigen und denen, die in der Stadt sind.» Jener aber gab ihm zur Antwort: «Wie ist das möglich ? Nie habe ich über sie so etwas erfahren, wie ich es nun von dir vernehme.» Da antwortete ihm jener: «Wenn du willst, so komme mir nach, und ich will dich auf den Weg führen, auf dem sie tagtäglich einherkommt. Da kannst du alles sehen, was ich dir gesagt habe.» So gingen sie denn miteinander hin und kamen auf jenen Weg. Die Jungfrau Christi Verena begegnete ihnen. Sie hatte Brot bei sich und in ihrem Krüglein Wein. Der Priester redete sie an: «Wohin willst du gehen, und was hast du da in deinem Krüglein ?» Die gottgeweihte Jungfrau Verena gab zur Antwort: «Ich will zu den Armen dort gehen, und in dem Krüglein da ist Wasser, denn ich will ihnen die Füße und den Kopf waschen.» Da sagte der Priester zu ihr: «Ich will kosten, ob es Wein ist oder Wasser.» Wie er das Krüglein in seine Hände genommen hatte, sah er darin glühende Kohlen liegen. Und zur Stunde wurde der rote Wein alsogleich umgewandelt in klares Wasser. Da gab er ihr das Krüglein zurück, fiel ihr zu Füßen und flehte sie an mit den Worten: «O hochheilige Jungfrau Christi Verena, denke nicht an meine Sünden, die ich vor dir begangen. Der da bei mir ist, der hat mich hierhergeführt wider dich.» Die heilige Jungfrau gab ihm zur Antwort: «Jener, um dessen Liebe willen ich hierher zu gehen angefangen habe, möge sich würdigen, dir alle deine Sünden zu vergeben. Demjenigen aber, der dich hierher geführt, mage er nicht vergeben, und er soll nicht sterben, bevor er bestimmte Zeichen an seinem Leibe trägt. S. 47Und auch an seinem ganzen Geschlechte sollen solche Zeichen geschehen, bevor es von dieser Welt scheidet.» Als dann der Priester daheim in den Keller kam, fand er alle seine Fässer voll Wein. Der Knecht aber wurde auf dem Heimweg blind und lahm. Und sein ganzes Geschlecht hat bis auf den heutigen Tag, bevor es aus diesem Leben scheidet, leiblichen Schaden zu tragen: Der eine ist blind, der andere taub; der eine ist stumm, der andere hinkt oder ist lahm; einer ist gebückt, ein anderer kahlköpfig; einer kommt im Wasser um, ein anderer im Feuer. Die gottgeweihte Jungfrau Verena selber aber ging ihres Weges weiter zu den Aussätzigen, reichte ihnen zu essen und zu trinken und wusch sie. Als die gottgeweihte Jungfrau Verena aber zurück kam zur Kapelle der heiligen Jungfrau Maria, bat sie den Priester, er möge ihr eine Zelle bauen, damit sie allein darin wohnen könne bis an das Ende ihres Lebens.
Doch sprechen wir nicht hievon, bis wir mit Gottes und seiner Heiligen Hilfe behandelt haben, was über ihre glorreichen Wunder weiter zu sagen bleibt. Denn noch ist etwas, was wir nicht der Vergessenheit anheimfallen lassen möchten, sondern für würdig erachten, heiligem Gedenken anvertraut zu werden. Als nämlich nach der Geburtstagsfeier des Herrn das Vierzigtägige Fasten begann, legte jener heilige Priester, der seligen Jungfrau Brotvater und Meister, seinen goldenen Ring ab und gab ihn der Jungfrau zu treuer Ohhut. Diese nahm in freundlich entgegen und legte ihn in ein Kästchen. Aber ein Mitknecht, des erwähnten Verräters Urenkel, sah das, stahl den Ring und machte sich davon. Er war nämlich voller Neid auf sie
S. 48um ihrer guten Werke willen. Wie nun einmal nach dem Ring gesucht wurde, schlich er sich heinlich an den Rhein und warf ihn mitten in die Tiefe. Sie aber weinte alle Tage bitterlich, seufzte aus dem Grunde ihres Herzens und hörte nicht auf, des Ringes wegen zu Gott zu beten. Als nun die Fischer einst in ihr Boot stiegen und die Netze einzogen, fingen sie eine gewaltige Menge Fische, darunter einen großen Lachs. Sie schafften ihn ans Ufer und brachten ihn mit den übrigen dem seligen Priester. Dieser empfand darob nicht geringe Freude und nahm ihn mit heiterer Miene entgegen. Er ließ ihn in Stücke zerlegen, und als man die Eingeweide herausriß, fand man zu innerst den Ring. Wie er das sah, begab er sich eilends zur Behausung der Jungfrau. Diese war voller Freude des Ringes wegen, aber noch freudiger um des göttlichen Wunders willen. Ohne Unterlaß pries sie darob Gott.
Welch wundersames Ereignis ! Wer hat je solches gesehen, wer gehört? Ein Fisch, der pures Gold zur Speise hat! Und wie getreu dieser Fisch ist! Lieber will er sein Leben geben, als daß die Jungfrau den Ring nicht mehr bekomme. Ein vernunftloses Wesen und doch viel treuer als das vernunftbegabte Wesen, der Mensch!
Doch nun zurück zur weitern Darstellung des Frühern, damit ihre glorreichen Werke nicht ungehört im Schweigen verblassen. Die heilige Jungfrau bat nun den Priester inständig und beharrlich, er möge ihr eine bescheidene Zelle errichten, und sie ganz allein darein einschließen zum Dienste Gottes. Wenn auch nur ungern, gab er schließlich doch seine Einwilligung und ließ für die Heilige eine Zelle bauen. Alsdann rief er alle Klerikcr jener Gegend sowie die gottesfürchtigen. S. 49Männer und Frauen zusammen und führte die Jungfrau mit aller Ehrung und Feierlichkeit in ihre langersehnte Bleibstatt. So verließ sie die Welt und führte daselbst ein strenges Leben.
Wie nun die gottgeweihte Jungfrau Verena eingeschlossen war, begann sie zum Herrn zu beten und sprach: «O Gott, Du hast eine Entscheidung voller Weisheit gefällt. Vor Dir erzittern alle Weltalter und die darin leben, vor Dir erbleichen alle Mächte. Du bist die Hoffnung der Verzweifelten und der Tröster der Waisen. Du bist ein gerechter Richter und Licht vom Lichte. Schau hin auf mich, denn ich war das einzige Kind meines Vaters, und nun hat auch er mich verlassen. Verlaß Du mich nicht, mein Herr und Gott; denn auf Dir beruht meine Hoffnung, Christus, und Du bist benedeit von Ewigkeit zu Ewigkeit.» Und sie verbrachte daselbst elf Jahre im Dienste Gottes.
Es kam aber zu ihr ein blinder Mann, begann sie unter Tränen anzuflehen und sprach: «Lege Deine Hand auf meine Augen, auf daß ich dein Antlitz schaue.» Da wischte Verena die Tränen aus seinen Augen und sagte: «Der Herr Jesus Christus, der die Augen des Blindgebornen geöffnet hat, möge auch dir das Licht geben.» Und sie machte das Zeichen des Kreuzes über seine Augen, und zur selben Stunde erhielt er das Augenlicht. So kamen denn viele Blinde und Lahme zu ihr, und sie heilte alle.]
Schließlich nahte die Zeit der Vergeltung und das Ende der Mühsal. Ihr Leib wurde kränklich, und sie lag einige Tage zu Bette. In aller Strenge hielt sie jedoch ihren tapfern Vorsatz, und soweit sie ihre Schwäche überwinden konnte, suchte sie mit ungebrochener S. 50Seele Verbindung mit Gott durch Wachen und Beten. Als der Tag ihres Hinscheidens bevorstand, erschien in der Zelle, wo sie darniederlag, die jungfräuliche Muttergottes Maria mit den heiligen Jungfrauen an der Spitze der unvergleichlichen Chöre. Verena hegte das fromme Verlangen, ihnen voller Sehnsucht entgegenzugehen und gleich bei ihnen zu verbleiben. Sie sprach: «Was ist mein Verdienst, daß du, die Mutter meines Herrn und meines Gottes, zu mir, deiner geringen Magd, zu kommen dich würdigst ?» Die Muttergottes Maria erwiderte ihr: «Damit du den Lohn erhaltest für deine Unverletztheit, mit der du bis anhin dem Herrn treu gedient hast. Folge mir im Geleite jener, mit denen du dich freuen sollst auf ewig. » So löste sich ihre heilige Seele vom Leibe. Die Zelle aber ward erfüllt mit herrlichem Wohlgeruch. Die heiligen Jungfrauen und gottesfürchtige Leute besorgten sie nun voller Dienstfertigkeit, und sie wurde am Orte begraben, der Zurzach heißt. Durch den Ruhm vieler Wunder tut sie allenthalben kund, daß sie im Angesichte Gottes lebt.
[Der Heiligen zu Ehren wurde an derselben Stätte eine Kirche erbaut. Darin tragen ihre Gebete Blüten, und denen, die ihr Grab berühren, werden viele Wohltaten gewährt durch die Gnade unseres Herrn, der mit dem Vater in Einheit mit dem Heiligen Geist als Gott lebt und herrscht von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.]
(Erlauchte Tochter, lies hin und wieder diese Zeilen und handle eifrig danach1 auf daß Du gleich der hochseligen Verena für dein Gelübde der Keuschheit die Krone der ewigen Vergeltung erlangen mögest. Beschäftige Dich mit ihrem Leben nicht bloß in Worten, S. 51sondern richte voller Wachsamkeit auch Dein Verhalten danach ein. Dann nämlich wirst Du in ihr eine Fürbitterin finden, wenn Du ihren Spuren folgst und sie stets als Vorbild vor Augen hältst, damit Du hervorragest durch Heiligkeit, wie Du Dich auszeichnest durch erlauchte Herkunft.)
