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1. Die Natur gibt aber nicht immer Gelegenheit, die eheliche Gemeinschaft zu vollziehen; die in längeren Zwischenräumen erfolgende Umarmung ist ja auch mehr ersehnt. Man darf aber auch nachts nicht zuchtlos sein, weil es da dunkel ist; vielmehr muß man das Schamgefühl in die Seele gleichsam als das Licht des Verstandes hereinnehmen.
2. Denn wir werden uns in nichts von der am Webstuhl arbeitenden Penelope unterscheiden, wenn wir am Tage die Keuschheitslehren weben, nachts aber, wenn wir ins Bett gehen, sie wieder auftrennen.1 Wenn wir nämlich Keuschheit üben müssen, wie das wirklich der Fall ist, so muß man noch viel mehr gegenüber der eigenen Gattin die Keuschheit dadurch beweisen, daß man unschickliche Umarmungen2 vermeidet; und der zuverlässige Beweis dafür, daß man S. a104 im Verkehr mit den Nächsten Keuschheit übt, muß aus dem Verhalten im eigenen Hause kommen.
3. Denn es ist nicht möglich, es ist durchaus nicht möglich, daß man bei jener als keusch gelten kann, in deren Nähe sich die Keuschheit nicht in eben jenen leidenschaftlichen Lustempfindungen als wahrhaftig erweist. Eine Zuneigung aber, die, wie sie selbst zugibt, nur auf den Geschlechtsverkehr aus ist, blüht nur kurze Zeit und altert zugleich mit dem Körper und altert manchmal auch vor ihm, wenn die Begierde erloschen ist, weil die eheliche Keuschheit durch buhlerische Wollust entweiht wurde. Denn schnell wandelbar ist das Herz der Liebenden; und der Liebeszauber wird durch die Reue unwirksam gemacht, und die Liebe verkehrt sich oft in Haß, wenn die Übersättigung die Verwerflichkeit erkennt.3
