70.
Ein zweiter Hymnus nach derselben Melodie [Bote der rechten Führung [?]].
O wie bitter ist, meine Brüder, dieser Kelch des Todes, der auch die Nüchternen berauscht, so daß sie unter Tränen irre werden. – [Kehrvers:] [5] Gepriesen sei, der die Toten lebendig macht!
Durch das Verscheiden des Toten wird auch der Ernste überwältigt, und er klagt erschüttert über den Freund, der dahinging. [10] Es schreit auf in seiner Liebe das Glied, das zurückblieb, über seinen Gefährten, der ihm entrissen, und dessen Umgang und dessen Stimme ihm nun fehlt.
Wenige vermögen Abraham nachzueifern, [15] der so stark war, daß er seines Leibes Frucht [d. i. Isaak] um seines Herrn willen dem Tode weihte.
Er war der Wahrheit Säule, die die Last im Volke trug; [20] ihn erschütterten der Schmerzen Wogen, doch seine Stärke wankte nicht.<br< Sieh an den Winzer, als er an seinem unfruchtbaren Weinstock eine Frucht erblickte; die späte Traube, [25] als Erstling brachte er sie dar.
Bewundernswert war auch Jephtes Tat1, dieses S. 304 Winzers, welcher die jungfräuliche Traube pflückte und sie dem Herrn des Weinbergs opferte.
[30] Sein Kampf siegte über sein Erbarmen, er unterdrückte seine Liebe und opferte jene, und trotz seines Schmerzes wurde er nicht irre, denn sein Glaube stützte ihn.
Der Wein des Todes [35] ist Hefe, die in Schmerzen aufbraust, mit Tränen machte er seine Zecher trunken und mit Weinen seine Gäste.
Reichen Trost spendet das erhabene Beispiel Jephtes, [40] der mit dem Schwerte den Schatz des Lebens dessen Herrn opferte.
Seine Rechte streckte Jephte aus und brachte das Opfer dar, die Taube sah sein Trauern [45] und flößte Mut ihm ein mit ihren Werken.
Würdig war der Priester, der mit Blut von sich seines Amtes waltete, ein Vorbild seines Herrn zu sein, der mit seinem eigenen Blute opferte.
[50] Wer immer von der Liebe trunken ist, aber aus Liebe zur Wahrheit [die Traurigkeit] besiegt, wird wie im Traume seinen Freund sehen, der von ihm schied.
Er sah wohl schon im Traume [55] seinen Freund im Sterben liegen; doch kam der Morgen, so tröstete er ihn über den Schmerz des Traumgesichts.
Wie gleicht doch der Tote jenem, der im Traum entschlafen, [60] und wie gleicht der Tod dem Traume und die Auferstehung dem Morgen!
Einst wird in uns die Wahrheit aufleuchten wie das Licht in unserm Auge, und wir werden den Tod betrachten [65] wie ein banges Traumgebilde.
Ein Tor ist, der da erkennt, daß der Schlaf am Morgen aufhört, aber meint, daß der Tod ein Schlaf ist, der ewig währt.
[70] Wenn das Auge von Hoffnung beseelt ist, vermag es das Verborgene zu schauen, dass der Schlaf des Todes an jenem Morgen endigt.
Er ist entschwebt, der Wunderduft [75] jenes Lebensschatzes im Körper, der Seele Wohnzelt, aus dem sie schaudernd entfloh.
Reich wird sein Schmuck und seine Pracht sein, denn er ist der geliebte Tempel des Geistes, [80] S. 305 wiederhergestellt, was vorher nicht war, und er wird eine Wohnung des Friedens sein.
Die Stimme der Posaune ruft den stummen [Seelen-] Harfen zu: „Wacht auf, lobsinget und prüfet [85] vor dem Bräutigam in Liedern!“
Ein Rauschen von Stimmen wird sein, wenn die Gräber sich öffnen; einer um den andern wird in seine Harfe greifen und Jubellieder anstimmen.
[90] Preis sei dir, der du den Adam erhöhtest, als er noch schuldlos war! Preis sei dir, der du ihn in die Unterwelt niederbeugtest, als er sich überhob!
Lob sei dem, der erniedrigt, [95] Lob sei dem, der wiederaufweckt! Möge auch meine Zither bei ihrer Auferstehung ihrem Herrn Lob singen!
Richt. 11,30 ff. ↩
