12.
Da sie nun die Freiheit erhalten hatten, zu tun, was sie wollten, brachten sie Tag und Nacht mit Lesungen und im Gebete zu, so daß ihre Beharrlichkeit ein religiöser Wettstreit, ein Zeugnis des Glaubens und eine Arznei für ihr Leiden war. Während sie in diesem Gottesdienst verharrten, kamen viele Heiden, um den Pionius zu überreden; als sie aber diesen Mann reden hörten, hörten sie wunderbarerweise ihre eigene Strafpredigt, sie, die gekommen waren, ihn zu tadeln. Jene aber, die dort mit Gewalt festgehalten wurden, benetzten mit vielen Tränen, die sie stromweise vergossen, ihre Wangen, so daß keinen Augenblick die Seufzer aufhörten und daß in dem wiederholten Schluchzen nur wieder neue Trauer entstand, besonders bei jenen, die bisher immer in unbeflecktem Rufe gestanden hatten. Als Pionius diese in beständiger Trauer und im größten Schmerze sah, sprach er unter Tränen also zu ihnen:
„Ich leide eine neue Art Strafe und werde so gepeinigt, als ob mir die Gelenke aller Glieder auseinander gerissen würden, da ich die Perlen der Kirche unter den Füßen der Schweine liegen und die Sterne des Himmels von dem Schwanze des Drachen bis zur Erde herabgezogen, den Weinstock, den Gottes Hand S. 356 gepflanzt hatte, von einem einzigen Schweine zerwühlt und von jedem Vorübergehenden nach Belieben abgerupft sehe. Meine Kinder, die ich neu gebare, bis Christus in euch ausgestaltet ist1 , meine zarten Zöglinge, sind harte Wege gegangen, Jetzt wird Susanna von den Boshaften vor Gericht gestellt, von gottlosen Ältesten überlistet; um der Schönheit der zarten und wohlgestalteten Frau zu genießen, entkleiden sie dieselbe und sagen mit lasterhafter Lüsternheit falsche Zeugnisse gegen sie aus. Jetzt höhnt und schweigt Aman, während Esther und die ganze Gemeinde beunruhigt wird; jetzt herrscht Hunger und Durst, nicht aus Mangel an Brot oder Wasser, sondern wegen der Verfolgung. Jetzt also, wo alle Jungfrauen eingeschlafen sind, haben sich die Worte des Herrn Jesu erfüllt; Wo auf Erden wird der Menschensohn, wenn er kommt, Glauben finden können?2 Denn ich höre, daß ein jeder seinen Genossen verrät, damit erfüllt werde das Wort; Der Bruder wird den Bruder zum Tode überliefern.3 Oder glaubt ihr, weil der Satan selbst uns verlangt und mit feuriger Hand seine Tenne reinigt, daß auch das Salz verdorben sei und von den Füßen der Menschen zertreten werde?4 Niemand von euch, meine Kinder, glaube, daß Gott schwach geworden sei, sondern wir sind schwach geworden; er sagt: Meine Hand ist nicht ermüdet zum Befreien und meine Ohren nicht betäubt, daß sie nicht hören. Unsere Sünden trennen uns von Gott5 , und daß er uns nicht erhört, macht nicht Christi Unbarmherzigkeit, sondern unsere Treulosigkeit. Denn was haben wir nicht Übles getan? Wir haben Gott vernachlässigt, einige haben ihn verachtet, andere in Begierde und in Leichtsinn gesündigt und sind an den Wunden, die sie sich gegenseitig durch Anklage und Verrat schlugen, zugrunde S. 357 gegangen. Wir müßten aber etwas mehr Gerechtigkeit haben als die Schriftgelehrten und Pharisäer.“
