III. Kapitel
Dasselbe läßt sich freilich auch von den Geschichtschreibern sagen, besonders wenn sie den Hörern zum Gefallen und zum Vergnügen Geschichten erzählen. Auch die Fertigkeit der Rhetoren im Lügen wollen wir nicht nachahmen. Weder in den Gerichtshöfen noch bei anderweitiger Betätigung steht uns die Lüge an, uns, die wir doch den wahren und rechten Lebensweg eingeschlagen haben, und denen durch ein Gesetz geboten ist1 , nicht zu prozessieren. Dagegen wollen wir gern von ihnen lernen, soweit sie die Tugend lobten oder das Laster rügten. Denn wie die meisten Geschöpfe von den Blumen nur etwas haben, insoweit sie an deren Duft oder Farbe sich ergötzen, die Bienen aber auch Honig aus ihnen zu gewinnen wissen, so werden auch die, die nicht bloß nach dem Angenehmen und Ergötzlichen solcher Schriften haschen, daraus auch einigen Gewinn für ihre Seele erzielen. Ja, ganz nach dem Vorbilde der Bienen müßt ihr mit jenen Schriften umgehen. Diese fliegen ja nicht allen Blumen unterschiedslos zu, noch wollen sie die, die sie besuchen, ganz wegtragen, vielmehr nehmen sie nur soviel mit, als sie verarbeiten können, und lassen das Andere gern zurück. Wollen wir klug sein, dann eignen wir auch aus jenen Schriften nur das uns Passende und der Wahrheit Verwandte uns an, übergehen aber das andere. Und wie wir beim Pflücken der Rose die Dornen vermeiden, so werden wir auch bei einer nutzbringenden Benützung solcher Schriften vor dem Schädlichen auf der Hut sein. Wir müssen also gleich von vorneherein jede Wissenschaft ins Auge fassen und auf den Zweck einstellen oder, wie das dorische Sprichwort sagt, „den Stein nach der Schnur richten2 “.
S. 452 Da wir ja durch die Tugend zu jenem unserem Leben gelangen müssen3 , auf diese aber von den Dichtern oft und oft auch von den Geschichtschreibern, noch weit öfter aber von den Philosophen4 ein Loblied gesungen wird, so müssen wir besonders solchen Schriften und Partien unsere Aufmerksamkeit schenken. Denn es ist ein großer Gewinn, wenn schon das jugendliche Herz mit der Tugend sich vertraut macht und an sie sich gewöhnt, da derlei Lehren bei der Empfänglichkeit des Gemütes sich tief einprägen und gewöhnlich unauslöschlich bleiben. Oder was mag denn wohl Hesiod mit den nachfolgenden, allgemein gesungenen Versen anders beabsichtigt haben als die Jugend zur Tugend zu begeistern? „Rauh ist anfangs der Weg und beschwerlich, kostet unendlich viel Schweiß und Mühe, und steil ist der Pfad, der zur Tugend führt. Nicht jedermanns Sache ist es, ihn zu betreten, weil er so steil ist, und wer ihn betreten, erreicht nicht leicht die Spitze. Wer aber einmal oben, darf schauen, daß er eben ist und schön, leicht und gangbar und angenehmer als der andere, der zum Laster führt, das man — wie derselbe Dichter gesagt — nebenan haufenweise haben kann5 .“ Wohl aus keinem andern Grunde, will mich dünken, hat er das gesagt, als um uns zur Tugend zu begeistern und alle aufzufordern, gut zu sein, und das bis ans Ende, d.h. nicht zu erliegen und zu ermüden in der Arbeit, bis man am Ziele ist. — Haben auch noch andere in ähnlicher Weise die Tugend gepriesen, so wollen wir auch deren Worten gerne lauschen, da sie mit uns dasselbe Ziel verfolgen.
Vgl. 1Kor 6,7. ↩
Vgl. auch Gregor von Nazianz ep. 139, Chrysostomus hom. 83 zu 1Kor — Homer, Odyssee V, 245. ↩
Oder: „Zu unserem Lebenskampfe uns rüsten müssen.“ ↩
Vgl. Plato, Phaed. 75 C; Euripides, Iph. Aul. 707; Sophokles, Oed. Col. 109; Elektra 45. ↩
Hesiod, opera et dies, v. 287 ff., worunter der viel zitierte Vers 289: τῆς δ`ὰρετῆς ίδρῶτα θεοὶ προπάροιθεν ἔθηκαν ὰθάνατοι. ↩
