VII. Kapitel
Wir dürfen also nicht dem Leibe dienen, außer soweit es absolut notwendig ist; wir müssen vielmehr für die Seele unser Bestes tun, um sie mit unserer Philosophie aus den Banden des sinnlichen Leibes zu befreien und zugleich den Körper den Leidenschaften gegenüber stark zu machen. Wohl muß man dem Bauche das Notwendige zukommen lassen, aber nicht darf man ihm das Angenehmste geben, wie die es machen, die nach Tafeldeckern und Köchen die ganze Erde und das ganze Meer absuchen, um gleichsam einem launischen Herrn den Tribut zu bezahlen — eine leidige Beschäftigung, bei der es ihnen nicht besser geht als den in der Unterwelt Gefolterten, die da sinnlos Wolle fürs Feuer krempeln1 , in einem Siebe Wasser tragen2 und in ein durchlöchertes Faß gießen, ohne mit ihrer Arbeit an ein Ende zu kommen. Für Haarfrisur und Kleider aber mehr tun als notwendig, sagt, Diogenes, verrät den albernen oder schlechten Menschen. Daher muß meines Erachtens putzsüchtig sein und heißen für ebenso schändlich gelten wie Buhlen oder fremden Ehen nachstellen. Was liegt denn einem vernünftigen Menschen daran, ob er ein kostbares Kleid trägt oder einen schlechten Rock, wenn er nur gegen Kälte und Hitze genügend Schutz hat? Auch in anderer Beziehung soll man sich nicht mehr beschaffen als notwendig ist, und um den Leib uns nicht mehr zu kümmern, als es gut ist für die Seele. Es ist doch wahrlich in den Augen eines Mannes, der wirklich diese Bezeichnung verdient, das Gebahren eines Zierbengels und Gecken keine geringere Schande, als S. 462 sonst einer Leidenschaft niedrig frönen. Denn alle Mühen darauf verwenden, dem Leibe es möglichst angenehm zu machen, ist doch nicht die Art eines Mannes, der sich selber kennt und den weisen Ausspruch beherzigt, daß der Mensch nicht das ist, was man sieht, daß vielmehr eine höhere Weisheit vonnöten ist, mit der ein jeder aus uns sich und seine Eigenschaften erkennt. Dies ist aber denen, die keinen geläuterten Sinn haben, noch weniger möglich als das Aufschauen zur Sonne, wenn man triefäugig ist.
Die Reinheit der Seele aber, um es ein für allemal und euch deutlich zu sagen, besteht in der Verachtung der sinnlichen Genüsse, in der Abkehr der Augen von den albernen Vorstellungen der Gaukler oder von Körpern, die zur Sinnlichkeit reizen, in der Hut vor lockerer Melodie, die durchs Gehör in die Seele eindringen könnte. Denn aus solcher Art von Musik entstehen gern Leidenschaften als die Ausgeburten von Sklaverei und Gemeinheit3 . Wir wollen indes eine andere Art von Musik lieben, die besser ist und besser macht, die auch David, der Verfasser der heiligen Lieder, gepflogen hat, um, wie es heißt, den König von seiner Schwermut zu befreien4 . Auch soll Pythagoras, als er unter betrunkene Zecher geriet, dem Flötenspieler, der den Zug führte, befohlen haben, die Melodie zu ändern und ihnen die Dorische Weise vorzuspielen5 ; und diese Melodie soll bei jenen eine solche Ernüchterung bewirkt haben, daß sie die Kränze wegwarfen und beschämt nach Hause gingen. Andere aber springen und toben beim Flötenspiele wie Korybanten und Bachanten. So sehr kommt es also darauf an, ob man guter S. 463 oder schlechter Musik sein Ohr leiht! Deshalb dürft ihr eine Musik, wie sie zur Zeit im Schwünge ist, ebensowenig aufsuchen wie sonst eine Schändlichkeit. Daß man alles mögliche Rauchwerk dem Geruchsinne zulieb der Luft beimischt und mit Salben sich bestreicht, das zu sagen will ich mich fast schämen. Welch andern Grund aber wird man für das Verbot, nicht dem Tast- und Geschmacksinne zu frönen, anführen als den, daß diese Sinne ihre Sklaven nötigen, wie das Vieh für den Bauch und, was darunter liegt, zu leben.
Mit einem Worte: Wer sich nicht im Schlamme sinnlicher Lust vergraben will, der muß den Leib überhaupt verachten, bzw. darf nur insoweit an ihn sich halten, als er, um mit Plato6 zu reden, beim Streben nach Weisheit behilflich ist. Plato sagt damit das Gleiche wie Paulus, der da warnt, nicht für den Leib zu sorgen zur Erregung der Lüste7 . Worin unterscheiden sich die, welche zwar für das Wohlbefinden des Leibes sorgen, aber die Seele, deren Organ der Leib ist, als etwas Wertloses vernachlässigen, von denen, die sich um die Instrumente kümmern, aber auf die Kunst nichts geben, der diese dienen? Man muß also gerade im Gegenteile den Leib züchtigen und niederhalten wie das Ungestüm eines Tieres, und ungeordnete Regungen, die er in der Seele weckt, mit der Geißel der Vernunft dämpfen, nicht aber der Sinnlichkeit die Zügel schießen lassen und die Vernunft so außer acht lassen, daß sie wie ein Fuhrmann von zügellosen, wild dahinstürmenden Rossen mitfortgerissen wird. — Auch an Pythagoras sollen wir uns erinnern, der zu einem seiner Schüler, den er durch Leibesübungen und reichliche Kost sehr fett werden sah, sprach: „Willst du nicht aufhören, dir das Gefängnis noch leidiger zu machen8 ?“ Daher soll denn auch Plato in klarer Voraussicht der schädlichen Folgen eines gemästeten Körpers absichtlich einen ungesunden S. 464 Ort in Attika für seine Akademie gewählt haben9 , um das zu große Wohlbehagen des Körpers zu beschneiden, wie man es macht bei zu üppigem Sprossen eines Weinstockes. Ich habe übrigens auch von Ärzten gehört, die bis zum Äußersten getriebene Behaglichkeit sei gefährlich.
Sprichwörtlich gebraucht; vgl. Zenobius in Parömiogr. gr. 1. c, p. 180; auch Plato, de leg. VI, 780. ↩
Parömiogr. gr. 1. c. p. 481. ↩
Über die sittliche Bedeutung der Musik äußerten sich Plato [de rep. lib. III, 401] und Aristoteles [Pol. lib. VIII, o. 7] ausführlich. ↩
Vgl. 1Kön. 16,14—23. ↩
Vgl. B. Zeller [Die Philosophie der Griechen 1, S. 274 mit Anm. 2] über die pythagoreische Musik, die als „ernst und ruhig“ galt, speziell die dorische Tonart [Aristoteles, Polit. VIII. 5], indes die ionische Tonart weichlich klang [Plato, de rep. III, 399 a]. ↩
Plato, de republ. 498 B. ↩
Röm. 13,14. ↩
Das hier von Pythagoras Gesagte wird sonst [Stobäus, serm. 77 p. 456] Plato in den Mund gelegt. ↩
Die Akademie lag eine starke Viertelstunde nördlich von Athen. Zur ungesunden Lage der Akademie vgl. Aelian, Var. hist. lib. IX, c. 10, auch Aristophanes in den „Wolken“ v. 1002 ff. ↩
