2.
Freilich sagen wir, wir verlangten nach dem Himmelreiche, kümmern uns aber um Das nicht, wodurch wir S. 45 es erlangen, sondern obgleich wir für das Gebot des Herrn uns keiner Mühe unterziehen, wähnen wir doch in der Eitelkeit unsers Sinnes gleicher Ehren mit Jenen gewürdigt zu werden, die bis zum Tode der Sünde widerstanden haben. Wer hat denn, wenn er zur Zeit der Aussaat zu Hause saß oder schlief, zur Zeit der Ernte den Schooß mit Garben gefüllt? wer von einem Weinberge, den er nicht pflanzte und bearbeitete, Trauben gelesen? Wer die Arbeit gethan, dessen sind auch die Früchte; die Ehren und Kränze gebühren den Siegern. Wer wird denn jemals den krönen, der sich nicht einmal gegen den Widersacher gerüstet hat, zumal man nicht allein siegen, sondern auch nach dem Apostel gesetzmäßig kämpfen, d. h. kein Titelchen der Vorschriften vernachläßigen darf, sondern jedes so thun muß, wie es uns geboten ist? „Denn selig,“ heißt es, „ist jener Knecht, den der Herr, wenn er kommt, findet,“ nicht daß er überhaupt handelt, sondern, „daß er so handelt.“1 Ferner: „Wenn du zwar recht opferst, das Opfer aber nicht recht austheilst, so sündigst du.“2 Wir aber, wenn wir nur ein Gebot erfüllt zu haben glauben, — denn ich möchte nicht sagen, wir hätten es erfüllt, zumal sie nach dem gesunden Sinne der Schrift alle in so engem Zusammenhange stehen, daß mit der Übertretung eines auch nothwendig die andern übertreten werden, — erwarten nicht den Zorn wegen der übertretenen, sondern gewärtigen die Liebkosungen wegen des einen, welches wir erfüllt haben. Wer von den zehn Talenten, die ihm anvertraut worden sind, eines oder zwei zurückbehält, die andern aber zurückgibt, wird wegen Rückgabe der mehrern nicht für rechtschaffen angesehen, sondern er wird wegen Zurückhaltung der wenigen der Ungerechtigkeit und Habsucht bezichtigt. Was spreche ich von Zurückhaltung? Ja ist Jemandem ein Talent anvertraut, und er gibt es ganz und unversehrt zurück, so wird er verurtheilt, weil er zu dem verliehenen Nichts hinzugewonnen hat. Wer seinen Vater S. 46 zehn Jahre hindurch geehrt, ihm später aber nur einen Schlag versetzt hat, der wird wegen seiner guten Handlung nicht gepriesen, sondern als Vatermörder verdammt. „Gehet,“ spricht der Herr, „und lehret alle Völker“ und lehret sie nicht das Eine halten, das Andere aber vernachlässigen, sondern „Alles halten, was ich euch befohlen habe.“3 Und der Apostel schreibt in ähnlicher Weise: „Wir geben Niemandem irgend Anstoß, damit unser Amt nicht gelästert werde, sondern in Allem erweisen wir uns als Diener Gottes.“4 Denn wären uns nicht alle Gebote zur Erlangung der Seligkeit nothwendig, so hätte man sie wohl nicht alle aufgeschrieben noch alle nothwendig zu halten befohlen. Was nützen mir alle übrigen guten Werke, wenn ich dadurch, daß ich den Bruder einen Narren heisse, des ewigen Feuers schuldig werde? Was nützt es, von den Übrigen in Freiheit gelassen zu werden, wenn man von Einem in Knechtschaft gehalten wird? „Denn wer Sünde thut,“ heißt es, „ist ein Sklave der Sünde.“5 Was für ein Gewinn ist es, von vielen Krankheiten frei zu sein, wenn der Leib von einer verzehrt wird?
