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Auf welche Seite wollen denn nun die gestellt werden, welche die meisten Gebote übertreten, weder Gott als Vater ehren noch ihm, der Großes verheißt, glauben noch ihm als Herrn dienen? „Denn bin ich der Vater,“ sagt er, „wo ist meine Ehre, und bin ich der Herr, wo ist die Furcht vor mir?“1 „Denn wer den Herrn fürchtet, hat an dessen Geboten sein Wohlgefallen.“ „Durch die Übertretung des Gesetzes aber entehrst du Gott,“2 heißt es ferner. Wie sollen wir also, das Leben in sinnlicher Lust dem Leben nach dem Gebote vorziehend, Lebensseligkeit, Gleichstellung mit den Heiligen und die Freuden der Engel vor dem Angesichte Gottes uns versprechen? Das sind Einbildungen S. 49 eines wahrhaft thörichten Sinnes. Wie kann ich bei Job sein, da ich kein mich treffendes Ungemach mit Dankbarkeit aufgenommen? wie bei David, der ich mich gegen den Feind nicht langmüthig bewiesen? wie bei Daniel, der ich nicht durch stete Enthaltsamkeit und eifriges Gebet Gott gesucht? Wie bei einem der Heiligen, da ich nicht in ihren Fußtapfen gewandelt habe? Welcher Kampfrichter handelt so unüberlegt, daß er den Sieger und den, der nicht gekämpft hat, gleicher Kränze für würdig hält? Welcher Feldherr hat jemals die, welche nicht einmal in der Schlacht erschienen, zu gleichem Beuteantheil mit den Siegern gerufen? Gott ist gut, aber auch gerecht. Des Gerechten Vergeltung geschieht nach Verdienst, wie geschrieben steht: "Thue Gutes, o Herr, den Guten und welche aufrichtig im Herzen sind. Die aber, welche abweichen auf krumme Wege, wird der Herr fortführen mit den Übelthätern.“3 Er ist barmherzig, aber auch Richter. Wir dürfen Gott nur nicht halb kennen noch von seiner Güte Anlaß zur Trägheit nehmen. Deßhalb die Blitze, deßhalb die Donner, damit seine Güte nicht verachtet werde. Der die Sonne aufgehen läßt, bestraft auch mit Blindheit; der den Regen gibt, läßt auch Feuer regnen. Jenes sind Zeichen seiner Güte, dieses seiner Strenge; entweder sollen wir ihn Jenes wegen lieben oder Dieses wegen fürchten, damit nicht auch zu uns gesagt werde: „Oder verachtest du den Reichthum seiner Güte, seiner Geduld und seiner Langmuth? Weißt du nicht, daß die Güte Gottes dich zur Buße treibt? Aber durch deine Verstocktheit und dein unbußfertiges Herz häufest du dir den Zorn auf den Tag des Zorns.“4 Da nun also Diejenigen nicht selig werden können, welche nicht die von dem Gesetze vorgeschriebenen Werke thun, auch nicht ohne Gefahr eines der Gebote vernachläßigt wird, — denn es ist ein ungeheurer Übermuth, uns zu Richtern über den S. 50 Gesetzgeber aufzuwerfen und einige Gesetze gut zu heissen, andere aber zu verwerfen, — wohlan denn, so lasset uns, die wir als Kämpfer der Frömmigkeit dieses ruhige und geschäftslose Leben gewählt haben, um uns die Beobachtung der evangelischen Lehren zu erleichtern, gemeinschaftlich dafür sorgen und dahin streben, daß uns keines der Gebote entgehe! Denn wenn der Mann Gottes vollkommen sein muß, wie geschrieben steht und in dem Vorhergehenden nachgewiesen ist, so muß er nothwendig in jedem Gebote vollkommen werden, bis zum Maße der Altersreife der Fülle Christi,5 zumal auch nach dem göttlichen Gesetze ein reines, aber verstümmeltes Thier Gott zum Opfer nicht wohlgefällig ist. Worin sich also Jeder für mangelhaft hält, das lege er zur gemeinsamen Berathung vor. Denn durch die fleissige Forschung Mehrerer wird das Verborgene leichter gefunden, da nach dem Evangelium unsers Herrn Jesus Christus Gott offenbar durch die Belehrung und Ermahnung des heiligen Geistes uns das Gesuchte finden läßt. Wie nun mir die Nothwendigkeit obliegt und mich Wehe trifft, wenn ich das Evangelium nicht verkündige, so treibe ich auch in gleicher Weise euch, wenn ihr nachlässig seid, zur Forschung, und zeigt ihr euch schlaff und träge, zur Beobachtung dessen, was überliefert ist, und zur Werkthätigkeit an. Daher sagt der Herr: „Das Wort, welches ich geredet habe, dieses wird ihn richten am jüngsten Tage.“6 Ferner: „Der Knecht, welcher den Willen seines Herrn nicht kannte und that, was Schläge verdiente, wird wenige Streiche bekommen; der aber, welcher ihn kannte und sich nicht nach seinem Willen richtete, wird viele bekommen.“7 Laßt uns also beten, daß ich das Wort untadelhaft verkünde und die Belehrung für euch fruchtbar werde. Da wir nun wissen, daß uns die Worte der S. 51 göttlichen Schrift vor dem Richterstuhle Christi vorgestellt werden, — „denn ich will dich tadeln,“ heißt es, „und deine Sünden dir vor Augen stellen,“8 — so laßt uns mit Sorgfalt auf die Worte achten und eilen, die göttlichen Werke eifrig ins Werk zu setzen, da wir nicht wissen, an welchem Tage oder zu welcher Stunde der Herr kommt.
