DIE FROMME ASKETIN
S. 89 Eine fromme Asketin wohnte zu Alexandria in ihrem Hause in beschaulicher Stille und sorgte für ihre Seele mit Fasten und Beten, Wachen und Almosengeben. Aber der Teufel, der ständige Feind des Menschengeschlechtes, ward durch soviel Tugend der Jungfrau sehr erzürnt und wirbelte Staub gegen sie auf. Er pflanzte einem Jüngling satanische Begierde zu ihr in sein Herz, und der begann, vor ihrem Haus auf sie zu warten. Und jedesmal, wenn sie ihr Haus verließ und in die Kirche zum Gebet gehen wollte, ließ sie der Jüngling nicht in Ruhe, sondern bedrängte sie nach Art verliebter Leute. So daß sie schließlich sich gezwungen sah, um der Nachstellungen des Jünglings willen ihr Haus nicht mehr zu verlassen. Eines Tages aber schickte sie ihre Dienerin zu ihm und ließ ihm sagen: Komm, meine Herrin läßt dich bitten! Der Jüngling eilte freudig zu ihr, vermeinend, er habe sein Ziel erreicht. Die Jungfrau aber saß an ihrem Webstuhl und sagte zu dem Jüngling: Setz dich! Und als er Platz genommen, fragte sie ihn: Herr Bruder, warum bedrängst du mich so und läßt mich nicht aus meinem Hause gehen? Antwortet der Jüngling: Wahrhaftig, Herrin, ich liebe dich sehr; sobald ich dich sehe, bin ich ganz Feuer! Spricht sie zu ihm: Was hast du denn Schönes an mir gesehen, daß du mich so liebt? Darauf der Jüngling: Deine Augen, denn die haben mich betört! Als das die Fromme hörte, ergriff sie das Weberschiffchen, hieb zu und stach sich ihre beiden Augen aus. Der Anblick traf den Jüngling, er tat Buße, ging in die Skethiswüste und ward gleichfalls ein bewährter Mönch.
