10.
Oder ist vielleicht das Beispiel der Schamhaftigkeit so bedeutungslos, daß Rebekka, als sie auf dem Gang zur Vermählung des Bräutigams gewahr wurde, einen Schleier faßte, daß sein Blick nicht vor der Vermählung sie träfe?1 Fürwahr nicht für ihre Schönheit war die herrliche Jungfrau besorgt, sondern für ihre Züchtigkeit. Was tat Rachel? Wie weinte und seufzte sie ob des Kusses, der ihr abgenötigt wurde! Und sie würde nicht zu weinen aufgehört haben, hätte sie nicht erfahren, daß es ein Nächstverwandter S. 372 gewesen ist2. So wahrte sie einerseits die pflichtschuldige Schamhaftigkeit und ließ es andrerseits nicht an Pietätsgefühl fehlen. Wenn schon dem Manne eingeschärft wird: „Hefte deine Augen nicht auf eine Jungfrau, daß sie dir nicht zum Falle werde!“3, was muß erst einer gottgeweihten Jungfrau eingeschärft werden, die, wenn sie liebt, eine Herzenssünde, wenn sie sich lieben läßt, auch eine Tatsünde begeht?
