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S. 38Geliebteste! Aus den göttlichen Geboten wie aus den Anordnungen der Apostel wissen wir, daß jeder Mensch, der inmitten der Gefahren dieses Lebens steht, Gottes Erbarmung durch Barmherzigkeit erwerben muß. Denn welche Hoffnung sollte die Gefallenen aufrichten, welche Arznei die Verwundeten heilen, wenn nicht die Almosen unsere Schuld tilgten und die Bedrängnisse der Armen zu Heilmitteln für die Sünden würden? „Selig sind die Barmherzigen; denn ihrer wird sich Gott erbarmen“1 , so lauteten die Worte des Herrn. Darum soll bei jenem Gerichte, bei welchem er in seiner Majestät erscheinen und über die ganze Welt das Urteil fällen wird, nach seiner eigenen Offenbarung die Wage der Gerechtigkeit so gehandhabt werden, daß einzig und allein das Verhalten den Armen gegenüber geprüft wird und der Hartherzigen das höllische Feuer beim Teufel wartet, der Mildtätigen aber die Herrschaft mit Christus2 . Welche Taten werden da nicht ans Licht gebracht, welche heimlichen Laster da nicht aufgedeckt, welche bösen Gedanken da nicht offenkundig werden, wo niemand mit Recht von sich rühmen wird, er habe ein reines Herz oder er sei frei von Sünde!3 . Weil jedoch die von uns geübte Barmherzigkeit noch über das Gericht gestellt werden wird und unsere milden Gaben über jede gerechterweise verdiente Strafe den Sieg davontragen S. 39sollen, so wird bei der Beurteilung des ganzen Lebens der Menschen und all ihrer verschiedenen Handlungen nur der eine Grundsatz gelten, daß bei dem keinerlei böse Tat zur Sprache kommen soll, bei dem sich nach dem Zeugnisse des Schöpfers Werke der Liebe gefunden haben. Daraus folgt, daß die zur Linken nicht nur das getan haben, was man ihnen zum Vorwurf machen wird. Wenn man sie nur des Mangels an menschlichem Mitgefühle überführen wird, so werden sie sich deshalb nicht frei von anderen Sünden erweisen.
Nein, obwohl sie vielfach schuldig sind., werden sie doch vor allem nur deshalb ihr Verdammungsurteil hören, weil sie ihre schweren Vergehen durch kein Almosen sühnten. Wenn nun4 der ein sehr hartes Herz besitzt, den keine Bedrängnis der Unglücklichen rührt, wenn jener, der einem Notleidenden keine Unterstützung angedeihen läßt, obgleich er die Mittel dazu hat, ebenso ungerecht ist, als wer einen Schwachen bedrückte, welche Hoffnung bleibt da noch einem Sünder , der nicht einmal deshalb Erbarmen übt, um Erbarmen zu finden? Daher handelt, Geliebteste, der in erster Linie gegen sich selber schlecht, der gegen seinen Nächsten nicht wohlgesinnt ist. Daher schadet der seiner eigenen Seele, der nicht dem andern nach Kräften beigesprungen ist. Die menschliche Natur ist bei Reichen und Armen dieselbe. Abgesehen von allem übrigen, was uns gebrechlichen Menschen zustößt, ist selbst das Glück gesund zu sein durchaus nicht ungefährdet; denn ein jeder muß das fürchten, was einzelnen begegnen kann. In jedem Menschen möge die veränderliche und hinfällige sterbliche Natur sich selbst erkennen und wegen des gemeinsamen Loses ihrem Geschlechte brüderliche Zuneigung entgegenbringen! Sie weine mit den Weinenden und seufze mit denen, die vor Qualen ächzen! Sie teile ihren Besitz mit den Dürftigen und beuge sich, solange sie noch gesund und rüstig ist, voll Mitleid über das Schmerzenslager des Kranken! Sie bestimme einen Teil ihrer Speisen für die Hungernden und glaube selbst zu frieren, wenn andere vor Frost und Blöße zittern! Entgeht doch der der ewigen Strafe des Sünders, der die zeitliche Not eines Bedrängten lindert.
