2.
Christus sagt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und aus deinem ganzen Gemüte und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“1 . Deshalb soll sich die Seele des Gläubigen die unvergängliche Liebe ihres Schöpfers und Leiters zu eigen machen und sich auch ganz dem Willen dessen unterwerfen, dessen Werke und Urteile durchweg von wahrer Gerechtigkeit, durchweg von Milde und Erbarmen erfüllt sind! Mag einer auch von schweren Leiden und vielen Widerwärtigkeiten heimgesucht werden, so hat doch der allen Grund, dies ruhig hinzunehmen, der erkennt, daß er durch Unglück entweder gebessert oder geprüft werden soll. Jene Liebe zu Gott aber wird nicht vollkommen sein können, wenn sie sich nicht auch auf den Nächsten erstreckt. Damit sind nicht nur die gemeint, die uns durch Freundschaft oder Verwandtschaft nahestehen, sondern geradezu alle Menschen, mit denen uns unsere Natur verbindet, mögen S. 44sie nun Feinde oder Verbündete, Freie oder Sklaven sein. Hat uns ja ein und derselbe Bildner geformt und uns ein und derselbe Schöpfer die Seele eingehaucht. Wir alle erfreuen uns desselben Himmels und derselben Luft und desselben Wechsels zwischen Tag und Nacht. Obgleich die einen gut, die andern böse, die einen gerecht, die anderen ungerecht sind, so spendet doch Gott allen seine Gaben und zeigt er sich gegen alle gütig. Dies besagen auch die Worte der Apostel Paulus und Barnabas, die sie an die Lykaonier über die Vorsehung Gottes richten: „Der in den vergangenen Zeiten alle Völker ihre eigenen Wege wandeln ließ und doch nicht unbezeugt blieb, indem er ihnen Gutes tat, vom Himmel herab Regen und fruchtbare Zeiten sandte und unsere Herzen mit Speise und Freude erfüllte“2 . Besonders gewichtige Gründe aber, unseren Nächsten zu lieben, haben wir in der weiten Verbreitung der christlichen Gnade, die sich über alle Teile der Welt erstreckt und uns dadurch, daß sie selbst niemand geringschätzt, zu verstehen gibt, daß niemand verachtet werden darf. Mit Recht gebietet uns der , selbst unsere Feinde zu lieben und für unsere Verfolger zu ihm zu beten3 , der tagtäglich aus allen Völkern den heiligen Zweigen seines edlen Ölbaumes ein Reis des wilden4 aufsetzt, der seine Feinde zu Freunden, Fremde zu seinen Kindern und Gottlose zu Gerechten macht, „auf daß sich beugen die Knie aller derer, die im Himmel, auf Erden und unter der Erde sind, und jegliche Zunge bekenne, daß der Herr Jesus Christus in der Herrlichkeit Gottes, des Vaters, ist“5
