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Geliebteste! Nach den Anordnungen der göttlichen Barmherzigkeit, denen sich unser Heiland für die Erlösung des Menschengeschlechtes unterzog, sollte das Evangelium der Gnade nur den Schleier vom Gesetze nehmen, nicht aber dessen Bestimmungen aufheben. Deshalb müssen wir auch den Ausspruch des Herrn beachten, er komme nicht, um das Gesetz aufzulösen, sondern um es zu erfüllen1 . Auch wir sollen uns also, soweit wir es durch Gottes Gnade vermögen, diesen Grundsatz zu eigen machen. Verstehen wir ja, daß keine Vorschrift des Alten Testamentes unbeachtet bleiben darf, wenn wir uns eifrig bemühen wollen zu erkennen, was dort in zeitweiliges Dunkel gehüllt war und was als dauernde Einrichtung angeordnet wurde. Die Unterscheidung der Speisen und Schlachtopfer, die Beschneidung des Fleisches, die Verschiedenheit der Reinigungen und die Einhaltung der Waschungen, die mit den Ereignissen selbst, für die sie als Vorbilder dienten, ihre Erfüllung fanden, brauchen bei ihrer2 vorbildlichen Bedeutung heute nicht mehr beobachtet zu werden. Dagegen behalten die Gebote und Weisungen, die sich auf die Sittenlehre beziehen, ganz so, wie sie gegeben wurden, ihre Geltung bei, da sie uns nichts anderes ans Herz legen, als sie in ihren Worten ausdrücken und die christliche Frömmigkeit sie vermehrt und steigert, nicht aber verringert und beseitigt. Darum werden auch die Vorschriften: „Du sollst Gott und den Nächsten lieben, Vater und Mutter ehren, keine fremden Götter anbeten“ und all das übrige, was uns entweder unter Drohungen verboten S. 72oder unter Verheißungen geboten wurde, von uns ebenso nach den Anordnungen des Alten Testamentes wie nach denen des Evangeliums hochgehalten. Nicht das Geringste aus dem Alten Gesetze wurde geschmälert, mag auch noch so vieles aus dem Neuen Gnadenbunde hinzugekommen sein. Deshalb bestimmten mit Recht die Apostel in ihren Anordnungen, daß das alte nützliche Fasten auch weiterhin bestehen bleibe, und die Kirche, trotz der in ihr üblichen zahlreicheren Bußübungen auch noch das heiligende Mittel der Enthaltsamkeit aus dem Alten Testamente herübernehme. Wäre es doch für die, denen die Gnade zuteil wurde, Größeres zu vollbringen, wenig geziemend, das Kleinere zu unterlassen.
