3. Kap. Die Beschneidung war nur ein äußerliches Zeichen, woran das Volk der Auserwählung kenntlich sein sollte. Darum stellte schon das Alte Testament das Aufhören derselben in Aussicht nebst der Errichtung eines Neuen Bundes, eines neuen Gesetzes und einer neuen Beschneidung in Verbindung mit einer Veredlung der Menschheit, welches alles mit dem Eintritt der Heiden in die Kirche bereits seinen Anfang genommen hat.
Aber Abraham, entgegnet man mir, wurde doch beschnitten. - Ja, aber er war Gott wohlgefällig schon vor seiner Beschneidung, und den Sabbat hat er trotzdem nicht beobachtet. Er erhielt allerdings die Beschneidung, allein sie sollte für jene Zeit als Zeichen dienen, nicht als Prärogative des Heiles. So blieben denn auch spätere Patriarchen noch ohne die Beschneidung, wie z. B. Melchisedech, der, obwohl unbeschnitten, für den bereits beschnittenen Abraham, als er aus dem Treffen zurückkehrte, Brot und Wein darbrachte. Aber ein Sohn des Moses, wirft man mir ein, wäre doch damals vom Engel erwürgt worden1, wenn nicht seine Mutter Sephora mit einem Steine die Vorhaut des Kindes beschnitten hätte. Darum, sagt man, wäre in der größten Gefahr, wer die Vorhaut seines Fleisches nicht beschneiden würde, - Allein, wenn es durchaus die Beschneidung wäre, welche das Heil bewirkt, so hätte Moses nicht unterlassen, sie seinem Sohne am achten Tage zu erteilen, da es feststeht, daß Sephora, vom Engel dazu gezwungen, es auf der Reise tat. Wenn wir es uns recht überlegen, so kann die erzwungene Beschneidung eines einzelnen Kindes keine Präskription für das ganze Volk herbeiführen und diese Vorschrift gleichsam zu einem Gesetze machen. Gott wußte nämlich vorher, S. 307daß er die Beschneidung dem Volke Israel als Zeichen, nicht als Mittel des Heiles geben werde. Darum drängte er dazu, daß der Sohn des Moses, des künftigen Anführers, beschnitten werde, damit das Volk, wenn ihm durch Moses das Gesetz der Beschneidung würde gegeben werden, es dieselbe nicht verachte, sondern das Beispiel davon bereits am Sohne seines Anführers gegeben sähe.
Die Beschneidung sollte vollzogen werden, aber als ein Zeichen, woran Israel in den letzten Zeiten unterschieden werden sollte, wenn es seiner Mißverdienste halber vom Eintritt in die heilige Stadt abgehalten würde nach dem Worte der Propheten, die da sagen: "Euer Land wird verlassen, Eure Städte werden verbrannt sein, Euer Gebiet werden die Fremden vor Euren Augen ausplündern; verlassen und verwüstet von den fremden Völkern wird die Tochter Sions gelassen werden, wie ein Häuschen im Weinberge, wie eine Wächterhütte im Gurkenfeld und wie eine Stadt, die erobert ist"2. Warum das? Weil, wie die darauffolgende Rede des Propheten ihnen vorwirft: "Ich Söhne erzeugt und sie erhöht, sie aber mich verworfen haben"3. Und abermals: "Wenn ihr auch eure Hände ausstrecken wolltet, ich werde mein Antlitz von Euch abwenden, und wenn ihr auch eure Gebete vervielfältiget, ich werde euch nicht erhören; denn eure Hände sind voll Blut"4. Und wiederum: "Wehe dir, sündiges Geschlecht, Volk, voll von Sünden! Verruchte Söhne, ihr habt Gott verlassen und den Grimm des Heiligen Israels erweckt"5.
Das war also die Absicht Gottes, Israel die Beschneidung als ein Zeichen zu erteilen, woran es erkannt werden könne, wenn die Zeit kommen würde, wo ihm wegen der erwähnten Mißverdienste der Eintritt in die Stadt Jerusalem versagt werden würde. Dies wurde angekündigt, weil es einerseits so kommen sollte, andererseits S. 308sehen wir, daß es geschehen ist6. Wie nämlich dem Volke, als es noch halsstarrig war, eine leibliche Beschneidung, eine bloß zeitweilige, vorübergehende, als Zeichen erteilt wurde, so ist dem gehorsamen Volke eine geistige Beschneidung als Heilmittel gegeben worden, wie der Prophet Jeremias sagt: "Erneuert euch und säet nicht unter die Dornen, laßt euch beschneiden für Gott und beschneidet die Vorhaut eures Herzens"7. Und an einer anderen Stelle sagt er: "Siehe, es werden Tage kommen, spricht der Herr, und ich werde dem Hause Juda und dem Hause Jakob einen Neuen Bund bereiten, nicht so, wie ich ihn ihren Vätern gegeben habe am Tage, als sie auszogen aus Ägypten"8.
Daraus ersehen wir, daß auch die erste damals erteilte Beschneidung aufhören sollte und daß das Erscheinen eines neuen Gesetzes, nicht eines solchen, wie er es bereits den Vätern gegeben habe, angekündigt wurde, wie Isaias geweissagt hatte, als er redete "vom Berge des Herrn und dem Hause Gottes, das in den letzten Tagen auf den Berggipfeln erscheinen würde". "Er wird erhöht werden", heißt es dort weiter, "über die Hügel und es werden ihn besteigen alle Völker und viele werden auf ihm wandeln und sagen: "Kommet, steigen wir hinauf zum Berge des Herrn und zum Hause Jakobs"9; nicht des Esau, des ersten Sohnes, sondern Jakobs, des folgenden, d. h, unseres Volkes, dessen Berg Christus ist, der nicht durch die Hände von Steinmetzen behauen ist und von Daniel als "die ganze Erde erfüllend" hingestellt wird10.
Endlich verkündigt Isaias auch, es werde aus diesem Hause Jakobs ein neues Gesetz hervorgehen, mit folgenden Worten: "Aus Sion wird ausgehen das Gesetz und das Wort Gottes aus Jerusalem, und er wird Gericht halten unter den Völkern, d. h. unter uns, die wir aus den Heiden berufen worden, und sie werden umschmieden, S. 309heißt es, ihre Schwerter zu Pflügen und ihre Lanzen zu Sicheln und kein Volk wird mehr gegen das andere zum Schwerte greifen und sie werden das Kriegführen nicht mehr erlernen"11. Wer wird damit gemeint sein, wenn nicht wir, die wir, durch das neue Gesetz belehrt, alles dies beobachten, nachdem das alte Gesetz abgeschafft ist, dessen künftige Abschaffung die Tatsachen selbst kundtun. Das alte Gesetz behauptete sich durch Ahndung mit dem Schwerte, forderte Auge für Auge und nahm Rache für die Unbill. Das neue Gesetz aber hat Sanftmut verkündet, leitet das frühere Wüten und Toben mit Schwertern und Lanzen zu friedlicher Ruhe an und lenkt das frühere kriegerische, gegen die äußeren Feinde und Gegner des Gesetzes gerichtete Treiben in die friedlichen Tätigkeiten des Pflügens und Ackerbauens hinüber.
Wie also unserem obigen Nachweise zufolge das Aufhören des alten Gesetzes und der leiblichen Beschneidung angekündigt worden ist, so offenbart sich die Beobachtung des neuen Gesetzes und die geistige Beschneidung in Werken des Friedens, "Volk", heißt es, "welches ich nicht kannte, hat mir gedient und mit gehorsamem Ohre auf mich gehört"12. Die Propheten haben das verkündigt. Was für ein Volk aber war es, das Gott nicht kannte, wenn nicht wir, die wir früher von Gott nichts wußten? Wer hört auf ihn mit gehorsamem Ohre, wenn nicht wir, die wir die Idole verließen und uns zu Gott bekehrten? Denn Israel, welches Gott wohlbekannt und von ihm in Ägypten erhöht, durch das Rote Meer geführt und in der Wüste mit dem Manna gespeist worden war, welches vierzig Jahre lang ein Leben wie in der Ewigkeit, von menschlichen Leidenschaften unbefleckt, hingebracht hatte, nicht mit den Speisen dieser Welt, sondern dem Brot der Engel, dem Manna, genährt und Gott hinlänglich durch Wohltaten verpflichtet war, dieses Israel vergaß dennoch Gottes, seines Herrn, und sagte zu Aaron: "Verfertige uns Götter, die vor uns hergehen; denn jener Moses, der S. 310uns aus dem Lande Ägypten herausschleppte, er hat uns verlassen und wir wissen nicht, was ihm zugestoßen ist"13. Darum sind wir, die wir früher nicht Gottes Volk waren, nun sein Volk geworden durch Annahme des obengenannten neuen Gesetzes und der vorher verkündeten neuen Beschneidung.
