Zweiter Artikel. Christus hatte im ersten Augenblicke seiner Empfängnis den Gebrauch des freien Willens.
a) Den hatte Er nicht. Denn: I. Vorher hat ein Wesen Sein und erst auf Grund dessen Wirken. Der Gebrauch des freien Willens aber ist ein Wirken. Also war er nicht in Christo im ersten Augenblicke. II. Den freien Willen gebrauchen heißt: Auswählen. Dies aber setzt nach 3 Ethic. 3. das Beratschlagen voraus. Also kam dieses vorher. III. Der freie Wille gehört dem Willen und der Vernunft an. Letztere aber setzt für ihr Thätigsein voraus die Thätigkeit der Sinne; und diese wieder bedarf ausgebildeter Organe, die nicht im ersten Augenblicke vorhanden waren. Also. Auf der anderen Seite sagt Augustin (Gregor in registro ep. 61. lib. 9.): „Alsbald da das Wort kam in den Mutterschoß der Jungfrau wurde es, unter dem Behüten der Wahrheit der eigenen Natur, Fleisch und vollkommener Mensch.“
b) Ich antworte, der menschlichen Natur, wie sie Christus angenommen, komme geistige Vollendung zu (Kap. 7, Kap. 9, Kap. 33.). Darin hat Christus keinen Fortschritt gemacht, sondern sie gleich im Beginne besessen. Die letzte Vollendung aber besteht nicht im Vermögen oder in einem Zustande, sondern im Thätigsein, weshalb Aristoteles (2. de anima) das Wirken als das zweite Thatsächlichsein bezeichnet. Also hatte Christus im ersten Augenblicke seiner Empfängnis jene Thätigkeit der Seele, die überhaupt im Augenblicke gehabt werden kann. Dies ist aber die Thätigkeit der Vernunft und des Willens, worin der Gebrauch des freien Willens besteht. Denn auf einmal und weit mehr im Augenblicke vollzieht sich die Wirksamkeit der Vernunft und des freien Willens wie das körperliche Sehen; da das Einsehen, Wollen und Empfinden nicht Bewegung ist als ein Thätigsein des Unvollendeten (was nach und nach vollendet wird), sondern Thätigkeit des Vollendeten (was vollkommen bethätigt ist). Also hatte Christus im ersten Augenblicke seiner Empfängnis den Gebrauch des freien Willens.
c) I. Nicht der Zeit nach ist Sein vorher wie Wirken; vielmehr zugleich wie das wirkende Princip vollendetes Sein hat beginnt es, thätig zu sein, falls lein Hindernis eintritt. So fängt das Feuer zugleich daß es erzeugt wird an, zu leuchten und zu wärmen; nur wird das Wärmen nicht im Augenblicke abgeschlossen, wohl aber findet das Leuchten im Augenblicke seinen Abschluß, und nicht vermittelst zeitlicher Aufeinanderfolge. Und solche Thätigkeit ist der Gebrauch des freien Willens. II. Zugleich mit dem Abschlusse des Beratens oder Überlegens kann sein die Auswahl. Wer aber des Beratschlagens bedarf, der hat erst am Ende desselben zuverlässige Gewißheit rücksichtlich des Gegenstandes der Auswahl; und deshalb wählt er nicht sogleich. Also das Beratschlagen wird nur da vorausgesetzt von der Auswahl, wo Unsicherheit besteht und deshalb Notwendigkeit für das Untersuchen. Christus aber hatte sogleich die Fülle des zuverlässigsten Wissens; Er kannte im ersten Augenblicke seinerEmpfängnis voll die Wahrheit, nach 1. Joh. 14. Also konnte Er sogleich und ohne weiteres wählen. III. Gemäß der eingegossenen Wissenschaft konnte Christus erkennen, ohne sich zu den Phantasiebildern zu wenden. Und sonach konnte in Ihm sogleich, abgesehen von aller Thätigkeit der Sinne, der Wille und die Vernunft thätig sein. Jedoch konnte in Ihm ebenso im ersten Augenblicke ein Wirken sein gemäß den Sinnen; zumal nach dem Tastsinne wonach die Frucht im Mutterleibe empfindet, auch abgesehen von der vernünftigen Seele (2. de gener. anima. 3.). Da zudem Christus im ersten Augenblicke die vernünftige Seele hatte und somit sein Körper nach dieser Seite vollendet und mit den dazu nötigen Organen versehen war, so konnte Er um so mehr im ersten Augenblicke haben die Thätigkeit des Tastsinnes.
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