101.
1. Alles, was gegen die richtige Vernunft ist, das ist eine Verfehlung. So wollen die Philosophen die allgemeinsten Leidenschaften in folgender Weise begrifflich bestimmen, die Begierde als ein der Vernunft nicht gehorchendes Verlangen, die Furcht als ein der Vernunft nicht gehorchendes Ausweichen, die Freude als eine der Vernunft nicht gehorchende Erhebung der Seele, (den S. 295 Schmerz als ein der Vernunft nicht gehorchendes Zusammensinken der Seele).1 Wenn demnach der Ungehorsam gegen die Vernunft die Verfehlung erzeugt, wie sollte nicht notwendigerweise der Gehorsam gegen die Vernunft, den wir Glauben nennen, das sogenannte Pflichtgemäße (τὸ καθῆκον) herbeizuführen geeignet sein?
2. Denn auch die Tugend selbst ist ein im ganzen Leben mit der Vernunft übereinstimmendes Verhalten der Seele. 2 Ja sogar das Höchste, die Philosophie selbst, bestimmt man als die Beschäftigung mit der Richtigkeit der Vernunft, 3 so daß notwendigerweise jedes Vergehen infolge eines Abirrens von der Vernunft geschieht und deshalb mit Recht Verfehlung genannt wird.
3. So wurde der erste Mensch, als er sündigte und Gott nicht gehorchte, auch, wie es heißt, „dem Vieh gleichgeachtet“. 4 Wenn sich der Mensch gegen die Vernunft verfehlt, wird er mit Recht für unvernünftig gehalten und mit dem Vieh verglichen.
Vgl. Chrys. Fr. mor. 391 ff.; 445 v. Arnim; Strom. 114,4; 32, 3. 4; 79, 5; 119, 3; IV 117, 5. ↩
Vgl. Stob. Ecl. II 7, 5b 1, p. 60, 7. 8 Wachsmuth; Diog. Laert. VII 89. ↩
Chrys. Fr. mor. 293 v. Arnim; vgl. dazu Stoic. vet. fragm. II p. 15, 12 Anm.; 41, 28; Hermes 25 (1890) S. 485. ↩
Ps. 48, 13. 21. Die Interpunktion des Textes ist zu ändern: das Anführungszeichen ist nach κτὴνεσιν zu schließen, dann Punkt zu setzen; die Zeichen nach ἄνθρωπος und ἐχαμαρτών sind zu tilgen. ↩
