1.
Martyrium ist Angleichung an das Lebensgeschick des menschgewordenen Logos. Die Geschichte der Idee, ja selbst des Wortes „Martyrium“ wurzelt S. 16 in den unergründlichen Tiefen der christlichen Gottheit. „Wahrlich, wahrlich ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, wir geben Martyrion von dem, was wir geschaut haben“ (Joh. 3, 11), sagt das Wort mit Menschenworten. Für dieses Zeugnis von oben legt Er sein „herrliches Martyrion ab vor Pontius Pilatus“ (1 Tim. 6, 13). Und für das Zeugnis von seinem Tod und seiner Auferstehung sendet Er Menschen aus und sagt ihnen: „Ihr seid dafür Martyres“ (Luk. 24, 48). Es gehört seitdem in die Urgründe alles apostolischen und damit alles kirchlichen Bewußtseins, was so oft von den Aposteln ausgesagt wird: „Wir sind Zeugen, Martyres, der Auferstehung“, „Zeugen für alles, was Jesus getan hat“ (Apg. 1, 8; 2, 32; 3, 15; 5, 32; 1 Kor. 15, 15; 1 Joh. 1, 2). Martyr bedeutet hier überall zunächst nur das, was unser deutsches Wort „Zeuge“ auch besagt. Aber es liegt nicht nur in der Natur dieses Zeugnisses für denjenigen, der „Zeichen des Widerspruchs“ (Luk. 2, 34) ist, sondern auch in der Konsequenz des Auferstehungszeugnisses „bis an die Grenzen der Erde“ (Apg. 1, 8), daß mit solchem Zeugnisgeben notwendig blutiger Kampf verbunden ist. Man kann niemals Zeugnis geben von dem einen einzigen Menschen, der von den Toten auferstanden ist, ohne daß man die damit gegebene völlige Sinnänderung des menschlichen Sterbens als wahr erweist durch eine neue Art zu sterben. „Martyres der Auferstehung“ bedeutet somit von Anfang an auch Todesbereitschaft für die Botschaft vom neuen Leben (Matth. 10, 18; Luk. 21, 12; Apg. 22, 20; S. 17 Offb. 17, 6). Hier liegt die theologische Wurzel für die inhaltliche Weiterentwicklung des Wortes Martyr von „Zeuge“ zu „Blutzeuge“, die jedenfalls in dem Augenblick als abgeschlossen gelten muß, wo wir mit dem Martyrium des Polykarp auf die ersten Martyrerakten stoßen. Aber das Jahrhundert zwischen Jesu Tod und Polykarps Zeugentod hat diesen Gedanken noch viel tiefer erfaßt: der blutige Tod für Jesu Auferstehung ist der erhabenste Ausdruck für die mit der aus Jesu Tod stammenden Erlösung gegebene Lebensangleichung des Begnadeten an den Urheber des Lebens, an den getreuen Martyr, den Erstgeborenen unter allen Sterbenden. Der Martyr ist kraft des ihm innewohnenden „Auferstehungsgeistes“ (Eph. 1, 20; Röm. 6, 4 5) der vollendete Darsteller des Lebens Jesu, gleichsam der „Mime“ des Erlösungsmysteriums. „Lasset mich Mime, Nachahmer der Leiden meines Gottes werden“, sagt darum der Märtyrer Ignatius (Röm. 6, 3). Das ganze Martyrium des Polykarp ist durchwaltet von diesem Gedanken und verzeichnet mit rührend volkstümlicher Hingebung die geringsten Ähnlichkeiten zwischen Jesu und des Märtyrers Todesleiden. Der Märtyrer dankt für die Gnade, „Anteil zu haben an dem Kelche Deines Christus“ (Polykarp), „so innig Christus gleich zu werden“ (Karpos). Er hat im Augenblick des Kampfes „wie eine Rüstung angezogen Christus, den herrlichen, unbesiegten Kampfhelden“ (Blandina). Diese gnadenvolle Identität steigert sich oft zu mystischer Höhe — es ist dies eine der bedeutsamsten Eigenheiten unserer S. 18 Berichte aus dem zweiten Jahrhundert: Der Märtyrer ist im Augenblick des Todesleidens „außerhalb seines Fleisches“ und hält in seinem Herzen eine heimliche Zwiesprache mit Christus, der in ihm wohnt oder neben ihm steht (Mart. Polykarp, Blandina und Alexander von Lugdunum). Mit dem Lächeln, das schon ewigen Glanz widerstrahlt, schaut er die Güter, die ihm „von ferne gezeigt werden“ (Karpos).
Von da aus gewinnt nun auch das in allen unsern Dokumenten so eindringlich und heldenhaft wiederholte eigentliche „Zeugnis“ seinen tiefen Sinn: „Ich bin ein Christ!“ Das ist nicht nur die juristisch und gerichtsnotorisch notwendige Antwort auf das Staatsgesetz: Christen dürfen nicht sein. Das ist mit einem einzigen Wort der Ausdruck für die gnadenvolle Gleichheit mit Christus, für die der Zeuge in den Tod geht. Das ist ihm mehr als Bürgerrecht und Heimat (Karpos), mehr als alles Irdische (Sanctus), und mag es so schön und liebenswert sein wie das Leben selbst (Apollonius). Mit diesem Wort reißt sich die kleine Blandina, wie durch einen anfeuernden Kampfruf aus der Arena, zu unerhörter Leistung zusammen. Und was es in seinen Tiefen bedeutet, sagt uns eine der erhabensten Stellen der ganzen altchristlichen Literatur, die uns zugleich einen Tiefenblick in das gewährt, was wir mit vollem Recht als urkirchliche Herz-Jesu-Verehrung bezeichnen dürfen. Der Diakon Sanctus „blieb unerschütterlich fest und unnachgiebig bei diesem Bekenntnis: denn wie ein linder Tau und wie göttliche Kraft floß auf ihn herab aus S. 19 himmlischer Quelle das lebendige Wasser aus dem Herzen Christi“!
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