1. Antwort
Die Liebe gegen Gott kann nicht gelehrt werden. Denn wir haben auch von keinem Andern gelernt, uns des Lichts zu freuen und das Leben zu schätzen, noch hat uns Jemand gelehrt, die Eltern oder Ernährer zu lieben. Ebenso nun oder noch viel weniger läßt sich die Liebe Gottes von aussen her lernen, sondern es ist zugleich mit der Schöpfung des lebenden Wesens, des Menschen nämlich, in uns ein gewisser Keim gelegt, der von Haus aus die S. 54 Triebe enthält, sich die Liebe anzueignen. Diesen Keim übernahm die Schule der göttlichen Gebote, pflegte ihn mit Sorgfalt, nährte ihn mit Wissenschaft und führte ihn mit Gottes Gnade zur Vollkommenheit. Deßhalb billigen wir denn auch euren Eifer als zum Zwecke nothwendig und werden mit Gottes Hilfe und von euren Gebeten unterstützt den in euch verborgenen Keim der Liebe gemäß der uns vom heiligen Geiste verliehenen Kraft zu wecken suchen. Indessen muß man wissen, daß Dieß nur eine Tugend ist, aber solche Kraft besitzt, daß sie jedes Gebot erfüllt und in sich schließt: „Denn wer mich liebt,“ sagt der Herr, „der wird meine Gebote halten.“1 Und ferner: „An diesen beiden Geboten hangen das ganze Gesetz und die Propheten.“2 Jetzt aber wollen wir uns in keine weitläufige Abhandlung darüber einlassen, — denn wir würden sonst, ohne es zu bemerken, die ganze Lehre über die Gebote hier zusammenfassen, — sondern soviel uns angemessen und dem gegenwärtigen Zwecke entspricht, wollen wir euch an die Liebe erinnern, die wir Gott schuldig sind, indem wir Dieses vorausschicken, daß wir bezüglich aller Gebote, die uns von Gott gegeben sind, auch von ihm im Voraus die Kräfte empfangen haben, sie zu erfüllen, damit wir uns nicht beklagen, als werde etwas Aussergewöhnliches von uns verlangt, noch uns überheben können, als brächten wir mehr ein, als gegeben worden. Und wenn wir diese Kräfte richtig und gehörig gebrauchen, so führen wir ein tugendhaftes und frommes Leben; zerstören wir aber ihre Wirksamkeit, so stürzen wir uns in das Laster. Und Folgendes ist die Definition von Laster: es ist der schlechte und dem Gebote des Herrn widersprechende Gebrauch der von Gott uns zum Guten verliehenen Fähigkeiten; ebenso ist nun die Definition von der Tugend, die Gott von uns verlangt, der Gebrauch jener Fähigkeiten in guter Absicht und dem Gebote des Herrn gemäß. Da nun Dieses so ist, so müssen wir auch Dasselbe von der Liebe sagen. Wir haben also das Gebot S. 55 empfangen, Gott zu lieben, und besitzen die Kraft zu lieben, welche sofort bei der Schöpfung in uns gelegt ist; auch gibt es dafür keinen äusserlichen Beweis, sondern Jeder kann das von sich selbst und in sich selbst erkennen. Denn von Natur verlangen wir nach dem Schönen, obwohl meistens Jedem etwas Anderes schön zu sein scheint, und lieben ohne Unterricht, was zur Familie und Verwandtschaft gehört, wie wir den Wohlthätern aus freien Stücken alles Wohlwollen erweisen. Was ist nun bewunderungswürdiger als die göttliche Schönheit? welcher Gedanke angenehmer als der an die Herrlichkeit Gottes? welches Verlangen der Seele ist so stark und gewaltig als dasjenige, welches von Gott der von allem Bösen gereinigten Seele eingeflößt wird, so daß sie in wahrem Gefühle sagen kann: „Ich bin verwundet von Liebe“?3 Der Glanz der göttlichen Schönheit läßt sich weder irgend aussprechen noch erklären; keine Rede schildert ihn, kein Ohr faßt ihn. Nennst du den Glanz des Morgensterns, die Klarheit des Mondes und das Licht der Sonne, so sind sie alle verächtlich im Vergleiche mit jener Herrlichkeit und stehen, mit dem wahren Lichte verglichen, hinter diesem weiter zurück als die tiefe, traurige mondlose Nacht hinter dem hellsten Mittag. Diese Schönheit ist unsichtbar den fleischlichen Augen und kann nur von der Seele und dem Gedanken erfaßt werden. Umstrahlte sie irgend einen der Heiligen und ließ sie einen unerträglichen Stachel zurück, so wurden sie des Lebens hienieden überdrüssig und sagten: „Wehe mir, daß meine Pilgerschaft verlängert ist!“4 „Wann werde ich kommen und erscheinen vor dem Angesichte Gottes?“5 Und ferner: „Aufgelöst zu werden und bei Christus zu sein, Dieß ist das viel Bessere.“6 Ferner: „Meine Seele dürstet nach Gott, dem starken, lebendigen.“7 Endlich: „Nun entlässest du deinen Diener, o Herr.“8 Da Denjenigen, deren Seelen S. 56 die göttliche Sehnsucht ergriffen hatte, dieses Leben beschwerlich wie ein Kerker war, so konnten sie in ihrem Drange kaum zurückgehalten werden. Und unersättlich in dem Anschauen der göttlichen Schönheit fleheten sie, es möchte auf das ganze ewige Leben das Anschauen der Lieblichkeit des Herrn ausgedehnt werden. So also sehnen sich die Menschen von Natur nach dem Schönen. Das wirklich Schöne und Liebenswürdige ist aber das Gute. Gut aber ist Gott, und nach dem Guten trägt Alles Verlangen, also trägt Alles Verlangen nach Gott.
