1. Antwort
Das Zusammenleben mit Mehreren, die denselben S. 69 Zweck haben, weiß ich, ist zu vielen Dingen nützlich. Erstens ist Keiner von uns für sich allein im Stande, die Bedürfnisse des Leibes zu befriedigen, zu deren Herbeischaffung wir einander nöthig haben. Denn wie der Fuß die eine Kraft hat, die andere aber vermißt und ohne Beihilfe der übrigen Glieder seine Kraft sich weder stark noch ausdauernd genug zeigt, auch das Mangelnde aus sich nicht zu ersetzen vermag; so wird auch im einsamen Leben das, was wir haben, für uns unnütz und das Fehlende unbeschaffbar, da Gott bestimmt hat, daß der Eine des Andern bedürfen solle, wie geschrieben steht,1 damit wir uns an einander anschlößen. Aber ausserdem leidet es auch die Rücksicht auf die Liebe Christi nicht, daß Jeder auf seinen eigenen Vortheil sieht: „denn die Liebe,“ heißt es, „ist nicht selbstsüchtig.“2 Das abgeschlossene Leben aber hat zu seinem alleinigen Zwecke die Besorgung der eigenen Bedürfnisse. Dieses widerspricht aber offenbar dem Gesetze der Liebe, wie es der Apostel erfüllte, indem er nicht seinen eigenen Vortheil, sondern die Rettung Aller suchte. Zudem ist es in der Abgeschiedenheit nicht leicht, seine eigenen Fehler kennen zu lernen, weil man Niemanden hat, der Einen zurecht weist und ihn sanft und mitleidsvoll bessert. Denn Zurechtweisung selbst von einem Feinde erzeugt bei einem rechtlich gesinnten Manne oft den Wunsch nach Heilung; wer aber aufrichtig liebt, der heilt auch auf verständige Weise die Sünde; denn „wer liebt,“ heißt es, „der erzieht mit Sorgfalt.“3 Ein Solcher ist in der Einsamkeit schwerlich zu finden, wenn er nicht schon vorher im Leben verbunden war. Daher begegnet ihm, was gesagt ist: „Wehe Dem, der allein ist, weil er, wenn er fällt, Niemanden hat, der ihn aufrichtet.“4 Auch werden von Mehreren leichter mehrere Gebote erfüllt, was von einem Einzelnen niemals geschehen kann, da das eine Gebot die Erfüllung des S. 70 andern hindert. So wird z. B. durch den Besuch eines Kranken, die Aufnahme des Fremdlings und durch die Spendung und Vertheilung der Lebensmittel — zumal wenn solche Dienste viel Zeit erfordern — die Vollbringung der Liebeswerke verhindert, so daß deßwegen das größte und zum Heile nothwendigste Gebot unterbleibt, indem weder der Hungrige gespeist noch der Nackte bekleidet wird. Wer wollte daher wohl das müßige und fruchtlose Leben dem fruchtbaren und nach dem Gebote des Herrn eingerichteten vorziehen?
