KAPITEL VIII.
Sei getrost, entgegnete ich. Denn nicht nur auf deine Fragen bin ich bereit, dir Rede und Antwort zu stehen, sondern auch darüber, worüber du mir die Verantwortung erlassen hast, will ich versuchen, soweit ich es vermag, dir Rechenschaft zu geben. Und wenn es dir genehm ist, will ich zunächst gerade hiermit meine Verteidigung beginnen. Denn ich würde ja widersinnig und nur allzu rücksichtslos handeln, wenn ich, besorgt um das gute Ansehen bei den mir ferne Stehenden, alles tun wollte, um diese Tadler zum Schweigen zu bringen, wenn ich hingegen meinen allerbesten Freund nicht zu überzeugen suchte, daß ich ihm kein Unrecht zufüge, zumal er sich so rücksichtsvoll gegen mich benommen, daß er mir nicht einmal wegen der vermeintlich erlittenen Kränkung Vorwürfe machen wollte, sondern unter Hintansetzung der eigenen Ehre nur mehr auf die meinige bedacht ist. Es wäre dann meine leichtsinnige Gleichgültigkeit ihm gegenüber viel größer als umgekehrt seine anhängliche Sorge, die er um meinetwillen an den Tag legte.
Inwiefern habe ich dir denn jemals Unrecht getan — denn von diesem Punkte aus bin ich entschlossen, die Fahrt in das Meer der Verantwortung anzutreten —, etwa weil ich dich überlistet und dir meine wahre Meinung verheimlicht habe? Es geschah dies jedoch dir, den ich getäuscht, zum Vorteil, und auch S. 111 zum Vorteil derer, denen ich dich durch List überantwortet habe. Ist nämlich heimliche List überhaupt etwas Böses, und ist es niemals, auch nicht im Notfalle, erlaubt, sich ihrer zu bedienen, so bin ich bereit, jedwede Strafe zu erleiden, welche du willst; oder vielmehr, da du selbst es doch nie über dich gewinnen wirst, Strafe über mich zu verhängen, so will ich in eigener Person mir jene Sühne auferlegen, welche die Richter gegen die Übeltäter erkennen, wenn die Ankläger sie der Schuld überführt haben. Ist aber ein listiger Kunstgriff nicht immer zu verwerfen, sondern wird er je nach der Absicht derer, die sich seiner bedienen, schlecht oder gut 1, so höre doch auf, mir vorzuwerfen, daß du hintergangen worden seiest, weise mir vielmehr nach, daß ich die fragliche List zu einem schlechten Zweck angewandt habe. Solange jedoch ein solches Motiv fehlt, sollten diejenigen, welche als verständig gelten wollen, keineswegs Tadel und Beschuldigungen vorbringen, sondern sie sollten billigerweise der verständnisvoll angewandten List Beifall zollen. Denn eine rechtzeitige und in der richtigen Absicht vorgebrachte Täuschung hat so großen Gewinn zur Folge, daß schon oftmals gar manche es büßen mußten, weil sie es an einem listigen Vorgehen fehlen ließen.
Prüfe nur einmal die seit alter Zeit berühmt gewordenen Feldherrn, und du wirst finden, daß die meisten ihrer Siege Erfolge angewandter List waren und daß gerade sie mehr gepriesen werden als jene, die im offenen Kampfe den Sieg davongetragen haben. Denn letztere führen die Kriege nur durch bedeutenderen Aufwand an Geld und Menschenleben zu einem glücklichen Ende. Darum erwächst ihnen kein eigentlicher Vorteil aus dem errungenen Siege; vielmehr ist die Lage der Sieger um nichts weniger misslich als S. 112 die der Unterlegenen, da beider Heere aufgerieben, beider Schatzkammern geleert sind. Dazu kommt, daß die so Besiegten den Siegern den Siegesruhm nicht einmal ungeschmälert lassen. Denn auch den Gefallenen gebührt es, einen nicht geringen Teil davon für sich zu beanspruchen, weil ihre Seelen den Sieg davontrugen und nur ihre Leiber unterlagen. Wenn es nämlich möglich wäre, tödlich getroffen 2 nicht zu fallen, und wenn nicht der Tod sie zu Boden gestreckt und hinweggerafft hätte 3, dann würden sie niemals in ihrem entschlossenen Mute gebeugt worden sein. Wer aber durch List zu siegen versteht, der bringt die Feinde nicht bloß ins Unglück, sondern überantwortet sie auch dem Gespötte. Denn während dort beide Teile in gleicher Weise Ruhm davontragen je nach den ihnen zur Verfügung stehenden Kräften, ist dies bei denen, welche sich der Klugheit bedienten, nicht geradeso der Fall. Hier gehört der Siegespreis den Siegern ausschließlich, und, was nicht geringer anzuschlagen ist, sie bewahren ihrem Vaterlande die Siegesfreude ungetrübt. Denn ein noch so großer Vorrat an Geldmitteln und die Maße der Krieger hat nicht den gleichen Wert wie die Klugheit des Geistes. Werden erstere im Kriege beständig in Anspruch genommen, so werden sie selbstverständlich allmählich aufgezehrt und gehen schließlich den Besitzern vollständig aus; diese aber nimmt ihrer Natur nach um so mehr zu, je mehr sie angeregt wird. Nicht nur im Kriege jedoch, auch in Friedenszeiten kann gar oft die Anwendung der List nicht umgangen werden, und dies wie bei den öffentlichen Angelegenheiten des Staates so im häuslichen Familienkreise. Der Mann bedient sich ihrer gegenüber der Frau, die Frau gegenüber dem Manne, der Vater gegenüber dem Sohne, der Freund gegenüber dem Freunde, ja sogar die Kinder gegenüber S. 113 ihrem Vater, Konnte doch zum Beispiel Sauls Tochter 4 ihren Gatten 5 nicht anders aus den Händen erretten als dadurch, daß sie ihren Vater überlistete 6, und ihr Bruder 7 nahm, um den von der Gattin geretteten Freund aus einer neuen Gefahr zu befreien, die nämlichen Waffen der List zu Hilfe 8, deren diese sich bedient hatte. Aber, unterbrach mich Basilius, das alles passt ja nicht auf mich. Denn ich bin weder dein persönlicher noch dein politischer Gegner. Auch gehöre ich nicht zu denen, welche dir Unrecht zuzufügen suchen, sondern gerade im Gegenteil. Immer habe ich mich in allen meinen Entschlüssen nach deiner Meinung gerichtet und bin dir auf dem Wege gefolgt, den du mich gehen hießest.
Die ganze Theorie über Anwendung von List und Täuschung, wie sie Chrysostomus hier vorbringt und die auch von anderen Kirchenvätern ähnlich vertreten wurde, erregt in mancher Beziehung Bedenken und läßt sich mit der Pflicht unbedingter Wahrhaftigkeit kaum vereinbaren. Vgl. dazu Seltmann, S. 36—39; Hasselbach, S. LXXXIV-LXXXVIII; Neander, Bd. I³, S. 92-97; Cognet, S, 25—27; Nairn, S. 19. ↩
Savilius, Migne, Seltmann, Nairn lesen „βαλλομένους“ mit fast allen Manuskripten; Bengel „βουλομενους“. ↩
Dieser Satz ist noch von εἰ abhängig und gehört nicht zum Nachsatz, wie Mitterrutzner in der bisherigen Bibliothek der Kirchenväter fälschlich übersetzte. Es müßte dann hei ἔπαυσεν ebenso selbstverständlich ἄν stehen wie bei ἔστησαν. ↩
Michal ↩
David ↩
1 Kön. 19, 11—17 ↩
Jonathan. ↩
1 Kön. 20, 5 ff. ↩
