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Damit nun gab er deutlich zu verstehen, wir sollten das Beispiel des Weinstockes zu unserer Lebensunterweisung heranziehen: Erstlich nun hindert man denselben, in der warmen Frühlingsluft Knospen1, sodann an den Blattwinkeln Frucht anzusetzen2, weil eine Traube daraus entsteht und sich formt und allmählich entwickelt mit dem säuerlichen Geschmack eines unreifen Erzeugnisses; denn süß kann nur die vollreife und gekochte Traube munden. Inzwischen schmückt sich der Weinberg mit grünem Laubgewande, das ihm nicht geringen Schutz gegen Kälte und jegliche Unbill gewährt und gegen die Sonnenhitze deckt3. Was aber gäbe es für ein schöneres Schauspiel oder einen süßeren Genuß als den Anblick des hängenden Traubengewindes, gleichsam des Schmuckgehänges des reizenden Geländes, und die Lese der gold- und purpurschimmernden Traubenfrucht? Hyazinth und anderes Edelgestein glaubt man S. 114 funkeln, Indigoblau leuchten, Weißperlenglanz blitzen zu sehen. Und du, o Mensch, willst die warnende Stimme daraus nicht vernehmen, daß der jüngste Tag nicht unreife Früchte an dir treffen und der Erntetag des vollreifen Lebens nicht unzeitige Werke aufweisen darf. Denn unreife Frucht schmeckt allzu bitter, süß kann nur munden, was zur vollen Reife herangewachsen ist. Einem solchen vollkommenen Menschen pflegt weder die schauerliche Todeskälte noch die Hitze der Leidenschaft zu schaden, da ihm die geistliche Gnade Kühlung weht und alle Glut weltlicher Lust und fleischlicher Begierlichkeit löscht, ihrem Brand wehrt. Preisen soll dich, wer nur immer dich schaut und die Scharen der Kirche wie Traubengehänge an Rebzweigen dich bewundern! Schauen soll jeglicher unter den Gläubigen der Seelen herrliches Geschmeide, sich ergötzen an der Reife der Einsicht, am Glanz des Glaubens, an der Herrlichkeit des Bekenntnisses, an der Schönheit der Gerechtigkeit, an der Fülle der Barmherzigkeit, so daß man dir zuruft: „Deine Gattin ist wie ein fruchtbarer Weinstock an den Wänden deines Hauses“4, weil du die Fülle des fruchttragenden Weinstockes durch Ausübung reichlich spendender Freigebigkeit nachahmst.
