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Merkwürdigerweise ist sogar auch in den Obstbäumen eine Geschlechtsanlage, ist in den Bäumen ein Geschlechtsunterschied vorhanden. So kann man S. 117 wahrnehmen wie die Palme, welche die Dattelfrucht hervorbringt, so manchmal ihre Äste zu einem Baum herabläßt, den die Landkinder Palmmännchen nennen, sich darunter neigt und eine Art Geschlechtsverlangen und -verkehr an den Tag legt. Sie ist sonach die weibliche Palme und verrät durch dieses Sichherabneigen ihr Geschlecht. Daher streuen die Pflanzer von Palmenhainen über die Palmzweige männlichen Dattel- oder Palmensamen, durch welchen in jenem weiblichen Baume eine Art instinktmäßige Geschlechtsbetätigung geweckt und die ersehnte Geschlechtsbefriedigung geboten wird. Damit beglückt, richtet er sich wiederum auf, streckt seine Zweige aufwärts und trägt seine Fächerkrone zur früheren Höhenlage empor.
Auch über den Feigenbaum herrscht die gleiche Ansicht. Man bindet vielfach, wie es gerüchtweise heißt, den wilden Feigenbaum an der zahmen Edelfeige entlang, weil sonst die Frucht dieser zahmen Edelfeige durch irgendwelche schädliche Einwirkung sei es der Luft sei es der Hitze zur Erde fallen soll. Wer darum von diesem Mittel weiß, bindet die Feigen des wilden Baumes an jenen Fruchtbaum und heilt ihn von seiner Schwäche, so daß er seine Frucht, die ohne das künstliche Mittel abfallen würde, zu behalten vermag1. Wie aus einem Naturrätsel spricht daraus die Mahnung zu uns, jene, die von unserem Glauben und unserer Gemeinschaft getrennt leben, nicht zu meiden. Es kann ja ein Heide, der gewonnen wird, aus einem leidenschaftlichen Anhänger des Irrtums ein umso eifrigerer Verteidiger des Glaubens werden. Und ein Irrgläubiger, der sich bekehrt, mag doch gewiß jene Seite (des Glaubens) verfechten, der er sich nach Änderung seiner Anschauung S. 118 zuwandte, insbesondere dann, wenn er etwa ein besonderes natürliches Geschick besitzt, seiner Überzeugung lebendig Ausdruck zu geben, wenn Nüchternheit, deren er sich befleißigt, und Keuschheit, die er beobachtet, ihn empfiehlt. So bemühe dich denn um ihn, um womöglich gleich jener Fruchtfeige aus der unmittelbaren Nähe und Verbindung mit jenem wilden Baume Stärkung deiner eigenen Tugendhaftigkeit zu erzielen. So wird dir nämlich einerseits das eigene Tugendstreben nicht erlahmen, andrerseits die Frucht der Liebe und des Wohlwollens aufbewahrt bleiben.
„Gerüchtweise“ kennt demnach Ambr. das schon im Altertume „vielfach“, noch heute allgemein angewendete Verfahren der sog. Kaprifikation (caprificus = Geißfeige, wilde Feige). Das „Heilmittel“ besteht aber tatsächlich in den Eiern, welche die Feigengallwespe in die Frucht der wilden Feige legt, wodurch sie größer, saftiger und zuckerhaltiger wird. Man hängt nun diese Frucht an die Zweige der kultivierten Feigenbäume, um deren Früchte ebenfalls von den ausschlüpfenden Wespen anstechen zu lassen. ↩
