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Wie viele Tatsachen aber sprechen dafür, daß sich der natürlichen Sprödigkeit eines Dinges durch Fleiß und Eifer begegnen lasse. Ein Beispiel hierfür bietet der Landbau. Gar manchmal nämlich blüht der Granatapfelbaum zu rasch auf und vermag dann, wenn nicht Sachkundige ihm durch geeignete Mittel sorgsame Pflege angedeihen lassen, keine Frucht hervorzubringen. Gar manchmal schwindet seine innere Saftfülle dahin, während äußerlich sein Aussehen einen prächtigen Anblick gewährt. Man vergleicht dasselbe nicht mit Unrecht mit der Kirche. So findet sich im Hohen Liede in Hinblick auf die Kirche die Wendung: „Wie die Schale des Granatapfels sind deine Wangen“1; und im folgenden (die Frage): „Ob wohl blühe der Weinstock, blühen die Granatäpfel“2. Die Kirche nämlich strahlt den hehren Glanz des Glaubens und des Bekenntnisses aus, herrlich schimmernd vom Blute so vieler Märtyrer und, was noch mehr besagt, beglückt mit dem Blute Christi. Mit diesem Fruchtgenuß wahrt sie zugleich noch eine Menge Früchte unter gleich sorgfältiger Hut in ihrem Schoße und vereinigt in ihrer Hand tausend Bemühungen auf dem Feld des Tugendlebens: der Weise müht sich ja in stiller Geistesarbeit3.
Auch den Mandelbaum soll der Landmann, um aus dessen bitterer Frucht süße zu erzielen, folgendermaßen S. 119 behandeln: Er bohrt die Wurzel dieses Baumes an und pfropft ihr ein Reis von jenem Baum auf, den die Griechen πεύκη [peukē], wir Pechföhre nennen. Durch dieses Verfahren nämlich wird seinem Safte die Bitterkeit genommen. Wenn nun schon der Landbau die Beschaffenheit eines Wurzelstockes verändern kann, sollte nicht auch Streben nach Erkenntnis und Zuchtbeflissenheit krankhafte Leidenschaften aller Art dämpfen können? Niemand, der auf der Jugend oder der Unenthaltsamkeit schlüpfrigem Pfade steht, gebe demnach die Hoffnung auf seine Bekehrung auf! Holz läßt sich so häufig für bessere Zwecke ändern: Menschenherzen sollen sich nicht wandeln lassen?
