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Zu erwägen aber ist, wie die Mildherzigkeit selbst vernünftiger Wesen die Liebe und Findigkeit unseres Vogels nicht überbietet, wie niemand von uns das Beispiel der unvernünftigen Tiere, selbst nachdem es vorliegt, nachzuahmen vermag. Sind nämlich die Glieder eines siechen Alten ob des hohen Alters der hüllenden Federn und des Steuers der Fittiche entblößt, drängen sich die Jungen rings heran und wärmen ihn mit ihrem Gefieder und was soll ich sagen? atzen ihn mit Nahrung, die sie herbeischleppen, und helfen sogar mitunter dem Kräfteverfall der Natur damit ab, daß sie den Alten dann und wann mit der Sänfte ihrer Fittiche zur Höhe heben und im Fliegen üben und so die bereits entwöhnten Glieder des guten Alten dem früher gewohnten Gebrauche zurückgeben. Wer von uns empfände nicht Widerwillen vor der Pflege eines kranken Vaters? Wer nähme den vor Alter Erschöpften auf seine Schultern? Ein selbst in der Geschichte fast unerhörter Fall! Wer würde nicht, um seiner Kindespflicht zu genügen, solchen Dienst den Sklaven aufbürden? Doch den Vögeln fällt das pietätsvolle Verhalten nicht schwer, die S. 210 natürliche Pflichterfüllung nicht hart, dem Alten die Pfege nicht, welche die Menschen so vielfach trotz der unter schwersten Strafen vorgeschriebenen Pflicht verweigern. Die Vögel bindet „kein geschriebenes, sondern ein angeborenes Gesetz“. Den Vögeln obliegen zu solchem Liebeserweise keine Vorschriften, sondern nur die Pflichten der natürlichen Dankbarkeit. Die Vögel schämen sich nicht, den Leib des Alten, dem Ehrfurcht gebührt, zu tragen. Er [der Storch] ist nämlich der Träger frommer Pietät. Das ist, weil häufig erwiesen, so allgemein bekannt, daß er auch den verdienten Lohn hierfür fand. Nach römischem Brauch heißt er nämlich der 'fromme Vogel '. Dieses Namens, der kaum einem Kaiser durch Senatsbeschluß beigelegt ward, wurden diese Vögel insgesamt gewürdigt. Auf der Väter Urteil beruht also der Ehrenname, den diese Vögel ob ihrer Mildherzigkeit haben. Der frommen Kinder Lob sollte vor allem im Urteil der Väter gegründet sein. Aber auch die Allgemeinheit stimmt dem bei. So nennt man die Wiedervergeltung von Wohltaten antipelargosis [Storchendank]; pelargos bedeutet nämlich Storch. Von diesem also erhielt sogar eine Tugend ihren Namen, indem die Dankbarkeit nach dem Storche benannt wird.
